Wolfram Schrittesser (57) ist aktuell Geschäftsführer eines Industriebetriebs in Oberösterreich. Wenn man sich zweimal im Leben treffen sollte, steht uns ein weiteres Mal bevor. Denn das Interview war ein komplettes „Blind Date“ und ich war sehr gespannt auf eine weitere Perspektive zum Thema Diversität.
Herr Schrittesser, ich freue mich sehr, Sie über so ein spezielles Thema kennenzulernen. Was hat den Ausschlag gegeben, dass Sie sich auf meinen Interviewaufruf gemeldet haben?
Wolfram Schrittesser: Diversität ist keine Modeerscheinung, sondern begleitet mich als Thema in unterschiedlichen Ausprägungen schon mein ganzes Berufsleben lang. Daher nehme ich sehr gerne Stellung. Was mir immer stärker fehlt, um ein Miteinander zu ermöglichen, ist persönliche Kommunikation. Früher haben wir auch in unterschiedlichen Konstellationen zusammengearbeitet. Und wenn es Unstimmigkeiten gab, dann wurden diese angesprochen und ausdiskutiert. Man muss ja nicht mit allen befreundet sein, um produktiv miteinander arbeiten zu können. Die sozialen Medien verleiten stattdessen dazu, Konflikte nicht mit der betreffenden Person oder Personengruppe anzusprechen, sondern öffentlich anzuprangern. Das spaltet mehr und verstärkt Ausgrenzungen, anstatt sich mit Differenzen auseinanderzusetzen und gemeinsam Lösungen zu finden.
In welchen Bereichen Ihres Berufsalltags fallen Ihnen Ausgrenzungen aufgrund struktureller Unterschiede besonders auf?
Ein Aspekt, der mich in den vergangenen Jahren beruflich und privat immer stärker beschäftigt, ist die Wahrnehmung, dass es durch die Digitalisierung für ältere Personen schwieriger wird, sich in der Arbeitswelt zu positionieren. Ich sehe oft, dass jüngere Kolleginnen und Kollegen, die mit der digitalen Welt vertraut sind, das Tempo der Digitalisierung mittragen können, ältere Arbeitnehmer aber aufgrund mangelnder Kenntnisse und Basics ausgeschlossen werden. Richard David Precht geht beim Thema Digitalisierung auch stark auf die Benachteiligung von Personen ein, die den Umgang mit digitalen und sozialen Medien nicht beherrschen. Das fängt schon damit an, dass man online z. B. bessere Einkaufskonditionen oder günstigere Tickets für öffentliche Verkehrsmittel bekommt.
Das ist eine spannende Beobachtung. In meinem Interview mit Petra Spatt haben wir die Digitalisierung insofern als Wegbereiter für Diversität gesehen, als Digitalisierung sehr oft ganzheitlich über alle Unternehmensbereiche gedacht wird und dadurch auch crossfunktionale Teams aus unterschiedlichen Abteilungen zusammenführt. Wenn allerdings die Basics fehlen, überfordert das Thema rasch und schließt wichtige Personengruppen aus. Quasi zwei Seiten der Medaille.
Welche Möglichkeit sehen Sie, dieser Kehrseite entgegenzuwirken und sowohl Digitalisierung als auch Diversität erfolgsfördernd in einem Unternehmen einzusetzen?
Ganz klar eine gute Kommunikation. Es ist enorm wichtig, dass alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter abgeholt und mitgenommen werden. Ich bin gerade dabei, dass wir in der Firma Infopoints und Kommunikationsinseln aufbauen. Diese werden wir für regelmäßige Informationen und unsere wichtigsten Botschaften nutzen, damit wir alle erreichen und auf einen gemeinsamen Informationsstand bringen. Und dann ist es natürlich notwendig, alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu motivieren, sich mit dem Thema Digitalisierung auseinanderzusetzen, und ihnen die Vorteile bzw. die Notwendigkeit immer wieder zu erklären. Im privaten Bereich ist das beste Beispiel mein Papa: Wir haben ihm zum 70. Geburtstag ein IPad geschenkt, damit er sich mit modernen Medien beschäftigt, und mittlerweile gehen wir alle zu ihm, wenn wir Fragen haben. Ich bin überzeugt, dass man Menschen egal welchen Alters für Digitalisierung begeistern kann.
Wenn man diese Hürde meistert und ein gemeinsames Grundverständnis für Digitalisierung schafft, können neue Medien dann auch förderlich für Diversität sein?
Ja, das denke ich schon. Wenn man moderne Medien „richtig“ nutzt, dann ergeben sich auch neue Möglichkeiten. Gerade während Corona haben wir sehr davon profitiert, dass wir uns in virtuellen Calls trotz Distanz in die Augen schauen und gemeinsam an Themen arbeiten konnten. Diese neue Arbeitsweise bietet die Chance, Teilnehmer aus unterschiedlichen Regionen oder mit unterschiedlichen Arbeitszeitmodellen, etc. an „einen Tisch“ zu bringen. Essenziell bleibt für mich aber, dass die modernen Medien für persönliche Gespräche genutzt und nicht bloß Emails durch die Gegend geschickt werden. Nur so können effektive Teamarbeit und Diversität gelingen.
Was ist Ihnen bei der Zusammenstellung von Teams wichtig? Welchen Fokus setzen Sie in Bezug auf Diversität?
Mir ist immer wichtig, dass alle Teammitglieder nicht nur ihren Fachbereich kompetent vertreten können, sondern auch menschlich bzw. auf Teamebene einen Mehrwert stiften. Ich schau ganz genau, wie jemand ins Team passt. Und das bedeutet nicht, dass es keine Konflikte geben darf, Konflikte sind völlig normal. Aber ich versuche, jede und jeden Einzelnen so einzusetzen, dass die jeweiligen Kompetenzen optimal ausgespielt werden können. Ich glaube, das ist auch, was mich als Führungskraft auszeichnet. Ich muss ein Umfeld schaffen, in dem sich unterschiedlichste Charaktere wohl fühlen und miteinander gut arbeiten können.
Welche Faktoren spielen da für Sie mit hinein, um ein solches Umfeld zu schaffen?
Was immer mehr an Bedeutung gewinnt, sind unterschiedliche Arbeitszeitmodelle. Ich kenne z. B. Unternehmen mit einer ungeheuren Fluktuation bei IT- und Softwareentwicklern, weil diese ganz anders arbeiten wollen, als man das in einem Produktionsbetrieb mit Schichtarbeit und starren Arbeitszeitmodellen gewohnt ist. Damit man hier Talente gewinnen und halten kann, muss man sich anders aufstellen, Freiraum bieten. Stichwort Vertrauensarbeitszeit. Es ist gewiss eine Herausforderung, auf individuelle Bedürfnisse einzugehen und dennoch eine Ausgewogenheit im Unternehmen zu erreichen. Aber es ist zugleich ein wesentlicher Erfolgsfaktor. Ich glaube, dass die Ergebnisse dann viel besser sind.
Erleben Sie diese Überzeugung auch in Ihrem Unternehmen? Wird der Mehrwert von Diversität gesehen?
Ich denke auf jeden Fall, dass es hier sehr viel Spielraum gibt. Aber aktuell haben wir für einen Strategieprozess ein Team zusammengestellt, das nicht nur die Fachbereiche umfasst, sondern auch eine Stelle für Kommunikation und Veränderung. Hier wird auch das Thema Kultur angesiedelt und der Fokus liegt stark darauf, welche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter wir in Zukunft für das Unternehmen begeistern wollen. Das finde ich cool und ich erwarte mir, dass sich dadurch etwas ändern wird und die Bedeutung von Diversität stärker ins Zentrum rückt.
Sie haben in China und anderen Ländern gearbeitet. Denken Sie, das hat Ihre Haltung beeinflusst und Ihr Verständnis für Diversität erweitert?
Ja, ganz bestimmt. Das hat zu einer Offenheit für andere Kulturen geführt. So unterschiedlich die typischen Gewohnheiten, Lebenspläne und Rahmenbedingungen sein mögen, ich kann andere Menschen so annehmen und wertschätzen, wie sie sind.
Wolfram Schrittessers Literaturtipp
„Digitale Ethik“ von Sarah Spiekermann. Sie geht in ihrem Buch darauf ein, dass sich die Themenfelder Digitalisierung, Künstliche Intelligenz und Software so rasant entwickelt haben, dass einerseits sämtliche Regulatorien fehlen und andererseits diejenigen ausgeschlossen werden, die versäumt haben, sich rechtzeitig mit den notwendigen Basics vertraut zu machen.
Weiterführende Fragen
Diesmal kein Learning, sondern eine Fragestellung bzw. eine Kette an Fragestellungen… In der Zeit vor den sozialen Medien war der Personenkreis, dem man täglich begegnet ist und der Teil des eigenen Lebens war, deutlich kleiner. War man da eher „gezwungen“, sich mit den Menschen im eigenen Umfeld zu arrangieren? War man da eher gewöhnt, auch Andersdenkende um sich zu haben und mit ihnen ein Auskommen zu finden? Findet man heute – egal, wofür und mit welcher Haltung – zumindest einige Gleichgesinnte im World Wide Web und fällt es daher leichter, sich „Verstärkung“ zu holen und dann gegen andere zu stellen? Vielleicht habt ihr zu diesem Thema schon etwas gelesen? Dann teilt das gerne mit mir, ich freu mich auf eure Tipps.
Ein Perspektivenwechsel
Herr Schrittesser, was würde sich in Ihrem Leben ändern, wenn Sie… ab morgen ein Mann mit Lebenspartner wären?
Je nachdem, wie sich das entwickelt hätte, wäre mein Leben vielleicht ein komplett anderes. Aber in der Lebenssituation, in der ich bin, würde sich nicht viel ändern. Ich denke, dass bei meinem aktuellen Arbeitgeber diesbezüglich eine große Akzeptanz herrscht und sexuelle Orientierung keine Rolle spielt.