Marita Haas beschäftigt sich seit 15 Jahren in Forschung und Lehre mit den Themen Gender & Diversität in Organisationen. Sie studierte Internationale Betriebswirtschaft an der Universität Wien, ist Mitbegründerin eines IT-Start-Ups und verfügt über mehrjährige Berufserfahrung im HR-Bereich. Marita Haas begleitet Unternehmen und Start-Ups und arbeitet dabei an der Schnittstelle von Wirtschaft und Wissenschaft. Mit GET GENDER ON THE AGENDA hat sie vor Kurzem eine App auf den Markt gebracht, die es Führungskräften ermöglicht, sich in Mikro-Lerneinheiten dem Thema Gender zu nähern. Über die App bin ich auf Marita Haas aufmerksam geworden und habe sie zu einem Interview eingeladen.
Marita, ich freu mich sehr, dass wir heute zu dem Thema Diversity und im Speziellen über Gender Equality sprechen können. Was bewegt dich zu diesem Themenbereich?
Marita Haas: Ich komme grundsätzlich aus dem wissenschaftlichen Bereich und habe mich im Rahmen von Organisationstheorie sehr umfassend damit beschäftigt, wie Gender in Strukturen und Prozesse eingeschrieben ist. Mir geht es weniger darum, wie wir uns selbst als Männer, Frauen oder diverse Personen wahrnehmen. Ich stelle die Frage, wie Organisationen und insbesondere Unternehmen dazu beitragen, dass immer die gleichen Personen ausgewählt werden, dass es nach wie vor ungleiche Bezahlung gibt, usw. Viele verorten das Thema Gender in der Gesellschaft und/oder der Erziehung – ich bin aber überzeugt, dass gerade Arbeitgeber*innen einen sehr großen Einfluss darauf haben, wie sich unsere Gesellschaft gestaltet.
Kannst du näher beschreiben, welche Möglichkeiten Unternehmen wahrnehmen können, um hier etwas zu verändern?
Ein plakatives Beispiel ist die Arbeitszeit: Organisationen sollten sich überlegen, was die Mitarbeiter*innen brauchen, um einen guten Job zu machen, gut mitentscheiden und Karriere machen zu können. Aktuell verändert sich hier die Haltung von Unternehmen und der Ruf nach einer 30-Stunden-Woche wird auch innerhalb der Mitarbeiter*innen immer lauter. Wenn wir tatsächlich anfangen, in Unternehmen 30-Stunden-Modelle anzubieten, dann ändert sich automatisch die in der Gesellschaft vorherrschende Genderverteilung, wo Männer die Vollzeitverdiener sind und Frauen in Teilzeit arbeiten. Aktuell muss jede Frau z. B. auf einer individuellen Ebene klären und organisieren, wie sie nach der Karenz in ihren Job zurückkehren kann und will. Mir geht es in meiner Arbeit darum, dass diese Situationen nicht mehr vorkommen. Unternehmen sollten sich überlegen, wie sie Arbeitsbedingungen unabhängig vom Geschlecht so gestalten können, dass sie allen Personen die Möglichkeit geben, Privat- und Berufsleben gut miteinander zu vereinbaren.
Du beschäftigst dich auf Basis eines wissenschaftlichen Ansatzes mit dem Thema Gender Equality in Unternehmen. In welchem Ausmaß besteht Handlungsbedarf? Zu welchen Ergebnissen kommen eure Genderanalysen?
Nachdem kaum ein Unternehmen erfasst, welche Mitarbeiter*innen sich nicht als Mann oder Frau definieren, können wir nur binäre Unterschiede feststellen. Wir sehen aktuell in Unternehmen ein großes Ungleichgewicht in Bezug auf Status, Macht und Partizipation. Es bestätigt sich ganz deutlich, dass entscheidungsrelevante Positionen eher von Männern besetzt werden und Frauen nach wie vor stärker in administrativen Jobs arbeiten. Damit korrelieren natürlich auch eine ungleiche Bezahlung, Karrierechancen und Mitspracherecht. Wenn wir das analysieren, stellen wir ganz klar fest, dass Unternehmen durch die Art und Weise der Besetzung von Positionen ein systematisches Ungleichgewicht schaffen. Dem können Unternehmen entgegenwirken, wenn sie ihre Prozesse verändern und hier auf das Thema Gender & Gender Equality achten. Das kann z. B. bedeuten, dass sie ihr Recruiting anders gestalten oder wie gesagt zusätzliche Arbeitszeitmodelle anbieten. Der zweite große Hebel ist die Haltung der Führungskräfte. Wenn eine Führungskraft versteht, dass Gender Equality und Diversity Themen sind, auf die sie großen Einfluss hat und die sie im eigenen Team aktiv gestalten kann, dann ist das ein sehr wichtiger Schritt. Diversity ist ganz klar ein Leadership Thema.
Du hast Haltung angesprochen. Welche Haltung fördert ein diskriminierungsfreies Arbeitsumfeld? Welches Bewusstsein müssen Führungskräfte entwickeln?
Führungskräfte müssen sich Folgendes bewusst machen: Ich bin dafür verantwortlich, dass in meinem Team alle Geschlechter die gleichen Chancen haben. Ich bin dafür verantwortlich, dass alle Personen in meinem Team die gleichen Möglichkeiten haben, um mitzureden und mitzuentscheiden. Wenn eine Führungskraft mit diesem Mindset ihr Team begleitet, dann entsteht eine ganz andere Haltung. Wir finden in Organisationen und Unternehmen nach wie vor sehr oft Diversity Beauftragte, die als Stabstelle agieren. Viel zu selten ist das Thema in der Führungsebene verankert, wo es aber hingehört. Führungskräfte sollten sich damit auseinandersetzen, wie sie das Thema zu ihrem Thema machen, und sich mit anderen darüber austauschen. In den vergangenen Jahren erleben wir immer öfter, dass sich bottom up DE&I* Arbeitsgruppen in Organisationen etablieren. Die sind auch nicht wesentlich nachhaltiger als die Stabstellen. Es werden zwar wertvolle Ideen generiert, aber letztendlich ist man wieder weg von der Verantwortung der Entscheidungsträger*innen.
Welches Bewusstsein erlebst du bei deiner Arbeit in Organisationen? Wird Diversity als Wettbewerbsfaktor gesehen? Verändert sich diese Wahrnehmung bei jüngeren Generationen?
In den aktuellen Führungsriegen erleben wir sehr heterogene Wissensstände zu diesem Thema. Einige legen seit vielen Jahren Wert auf Diversity, andere haben nur eine vage Vorstellung. Fakt ist, dass sehr wenige Führungskräfte sich bereits während ihrer Ausbildung mit Diversity und speziell Gender Equality beschäftigt haben. Bei der Generation, die jetzt auf den Arbeitsmarkt kommt, bzw. bei Millennials ist das Thema bereits fixer Bestandteil in Schule und/oder Studium. Aktuell liegt der Fokus bei Diversitymaßnahmen in vielen Unternehmen darauf, dem Fachkräftemangel entgegenzuwirken. In naher Zukunft gilt es aber Personen für die Organisation zu begeistern, die einen anderen Zugang zu Arbeit haben, die einen anspruchsvollen und spannenden Job wollen, sich aber für den Beruf nicht aufopfern werden. In börsennotierten Unternehmen fordern Aufsichtsrät*innen zunehmend eine Veränderung. Bei den GRI-Standards wird es in den kommenden Jahren einen stärkeren Schwerpunkt auf Menschenrechte und Diversity geben. Der Druck, Arbeitsplätze neu zu denken, wird immer stärker.
Meinst du, dass diese Forderung nach neuen Arbeitsmodellen über alle Branchen und Berufsgruppen hinweg gleich stark ist? Ist es überhaupt möglich, alle Arbeitsplätze flexibler zu gestalten?
Die Beschäftigung damit, wie wir arbeiten wollen, ist für mich in allen Bereichen notwendig. Natürlich ist es z. B. in einem Krankenhaus nicht möglich, dass jede*r nach den eigenen Vorlieben zu arbeiten beginnt. Aber auch hier kann überlegt werden, ob die eingesetzte Form von Schichtmodellen den Bedürfnissen der Mitarbeiter*innen bestmöglich entspricht.
Welche Erfahrungen macht ihr in Organisationen, die neue Arbeitszeitmodelle wie die 30-Stunden-Woche einführen? Wie reagieren Personen, die durchschnittlich 50-60 Stunden pro Woche arbeiten und sich darüber definieren? Entsteht dadurch Konfliktpotenzial?
Diese Fragen bekommen wir sehr oft gestellt. Oft fragen sich Organisationen auch, ob sie schon so weit sind, neue Arbeitsmodelle einzuführen. Meistens lösen sich die Bedenken aber auf, wenn wir alle Führungskräfte an einen Tisch holen. Wir erleben sehr oft, dass eine viel größere Offenheit besteht als vermutet und viele Ideen für eine Neugestaltung im Raum sind. Nicht jede*r, der/die bis dato 60 Stunden gearbeitet hat, will das auch in Zukunft machen. Unterschiedliche Arbeitszeitmodelle können auf jeden Fall nebeneinanderstehen. Ich bin eine Verfechterin davon, dass Unternehmen drei verschiedene Arbeitsmodelle anbieten und den Mitarbeiter*innen die Wahl lassen, welches Modell aktuell am besten zur eigenen Lebensrealität passt.
Ich möchte noch einmal auf einen Aspekt der Genderthematik eingehen und deine Erfahrung dazu abholen. Neue Arbeitsmodelle und diversere Führungskräfte bedeuten eine Veränderung für alle Berufstätigen. Haben Männer deiner Meinung nach das Gefühl, dass sie ihren Platz räumen und zurückstecken müssen?
Diese Fragestellung hat den Charakter, dass jemand etwas besitzt und einen Teil davon abtreten muss. Wenn wir männliche Führungskräfte einfach durch weibliche oder diverse Personen ersetzen, verändern wir aber das System nicht. Dieses würde komplett gleichbleiben und wir tauschen nur die Rollen. Das halte ich für unklug. Die Fragen sollten sein: Was will Führung heute sein? Wie können wir Führung inklusiver gestalten? Wie können wir die Unterschiedlichkeit der potenziellen Führungskräfte nutzen, um als Organisation insgesamt zu wachsen? In meiner Wahrnehmung ist es vielen Führungskräften gar nicht möglich, ihre Position mit all den Aufgaben und Verpflichtungen gut auszufüllen. Neue Modelle wie Shared Leadership gehen für mich in die richtige Richtung. Zwei Personen teilen sich eine Stelle und sind sich gegenseitig Sparringpartner, um das Team und die eigenen Kompetenzen besser weiterzuentwickeln.
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*DE&I
Das ist die Abkürzung für Diversity, Equity & Inclusion.
Get Gender on the Agenda
Marita Haas hat dieses Gender-Tool gemeinsam mit dem Kooperationspartner ovos (ovos.at) entwickelt. Es bietet vielfältige Möglichkeiten, sich mit der Genderthematik auseinanderzusetzen. Plakative Zahlen aus Studien und Analysen zeigen, wie weit z. B. das Gender Pay Gap auseinander klafft. Die wichtigsten Vokabeln und Definitionen helfen, dass man sich sicher zum Thema äußern und debattieren kann. Einfache Tipps unterstützen dabei, Meetings inklusiver zu gestalten. Damit kann ein gemeinsames Basiswissen im Unternehmen aufgebaut werden, das die Grundlage für Diskussionen und Workshops bildet.
Mehr Informationen über die App findet ihr hier:
Marita zitiert die Aussage ihrer Beratungskollegin und Kooperationspartnerin Petra Gregorits
„Wir müssen aufhören, Gender als Problem zu betrachten. Gender ist nicht das Problem – es ist die Lösung, da es uns in vielen Bereichen einen neuen Blickwinkel bietet.“
Mein Learning: Frauen in Gehaltsverhandlungen
Marita: „Es gibt unzählige Bücher, Seminare, etc., die Frauen empowern sollen, damit sie sich bei einer Gehaltsverhandlung besser darstellen und ihr Ziel erreichen. Es gibt allerdings sehr konkrete wissenschaftliche Belege dafür, dass Frauen während ihrer Karriere bei Gehaltsgesprächen viel öfter ein Nein hören als Männer. Es geht nicht nur darum, ob ich als Frau gut verhandle – es geht vor allem auch darum, ob die Führungskraft mir ein höheres Gehalt zugesteht. Daher ist es wichtig, dass sich Führungskräfte mit ihren Bias auseinandersetzen und reflektieren, ob sie bei Gehaltsentscheidungen gleichberechtigt entscheiden.“
Habt ihr dieses Thema schon einmal aus dieser Perspektive betrachtet? Habt ihr damit Erfahrungen gesammelt? Welche Meinung habt ihr zu Gehaltsschemata, damit das Gehalt gar nicht erst auf individueller Ebene verhandelt wird?
Allgemeiner könnten Unternehmen überlegen, ob Gehaltsverhandlungen heute noch adäquat sind. Geht es nicht vielmehr darum, fair und gut zu bezahlen, und darauf zu achten, dass niemand durch Bezahlung benachteiligt wird und/oder in eine prekäre Arbeitssituation gerät.