Karen (54) arbeitete für die Deutsche Post DHL Group, McKinsey & Company und zuletzt im internationalen Anlagenbau/Schiffbau bei der TGE Marine Gas Engineering GmbH vierzehn Jahre als Führungskraft. Trotz Multipler Sklerose und Rollstuhl war Karen erfolgreich als Personalleiterin tätig, bis sie sich entschied, ihren absoluten Herzenswunsch zu verfolgen: Als Coach, Mentorin und Wirtschaftsmediatorin unterstützt sie Menschen mit Handicap in ihren besonderen beruflichen Belangen. Im Interview habe ich Karen viele Fragen gestellt, die mich zum Thema körperliche Beeinträchtigung im beruflichen Kontext interessieren.
Karen, ich freu mich sehr, dass du dir Zeit nimmst und mir die Möglichkeit gibst, eine Perspektive zu einer wenig „sichtbaren“ Dimension von Diversität einzufangen. Im DACH-Raum (Deutschland, Österreich, Schweiz) leben mehr als 15 Mio. Menschen mit einer Beeinträchtigung, in meinem beruflichen Umfeld erlebe ich sehr wenig Auseinandersetzung mit dem Thema. Wie siehst du das? Warum wird das Thema tabuisiert?
Karen: Meiner Erfahrung nach sprechen wir das Thema Behinderung aus mehreren Gründen nicht gerne an. Bei vielen Menschen löst es Ängste aus. Die Angst, selbst behindert zu werden. Die Angst, unfrei und auf fremde Hilfe angewiesen zu sein. Dazu kommt die Unsicherheit, wie betroffene Personen angesprochen werden können bzw. wie das Thema adressiert werden kann. Arbeitgeber*innen haben oft auch Bedenken, durch beeinträchtigte Mitarbeiter*innen eine zusätzliche Last tragen zu müssen. Ich kann ganz offen sagen, dass ich selbst als Personalleiterin mit Handicap diesen Gedanken hatte, keine weiteren beeinträchtigten Personen einzustellen, um die Organisation nicht zu überfordern. Ich dachte, ich bin „Belastung“ genug. Dabei wusste ich natürlich, dass ich einen super Job mache und eine wertvolle Arbeitskraft für das Unternehmen bin.
Ich habe schon mehrfach gelesen, dass ein Teil der Lösung des Fachkräftemangels wäre, beeinträchtigte Personen zu beschäftigen. Warum ist das bisher nicht passiert? Warum meinst du, haben bisher viele Unternehmen das Potenzial ungenutzt gelassen?
Ich erlebe sehr oft – bzw. erzählen das auch viele Menschen, die ich in Coachings begleite – dass beeinträchtigten Personen weniger zugetraut wird. Das Bild von Behinderten ist extrem schlecht. Wenn ich unterwegs bin, werde ich z. B. nie gefragt, was ich arbeite. Erzähle ich dann von meiner Arbeit, blicke ich oft in große, verwunderte Augen. Und dann schwenkt die Stimmung gern Richtung „Superhero“, wenn Menschen mit Handicap erfolgreich sind. Diese Bewunderung, die da so über einen fällt, das finde ich sehr anstrengend.
Du hast quasi die Seite gewechselt und unterstützt jetzt als Coach beeinträchtigte Menschen dabei, beruflich erfolgreich zu sein und die Position zu erreichen, die sie verdienen. Was bedeutet dir diese Aufgabe?
Als ich beschlossen habe, als Coach und Mentorin zu arbeiten, habe ich viel darüber nachgedacht, wen ich begleiten möchte. Mein eigener Coach damals fragte mich, ob ich mir vorstellen könne, Menschen mit Handicap auf dem Weg zu einer Führungsposition zu begleiten. Meine erste Reaktion war „Nein“. Aber dann habe ich auf Facebook eine Gruppe gegründet, mich mit beeinträchtigten Personen ausgetauscht und schnell festgestellt, dass das ein großes Thema ist. Ich habe über dieses Netzwerk so viele großartige und talentierte Menschen kennengelernt, die noch keine Chance bekommen hatten, ihr Können zu zeigen.
Du fokussierst dein Beratungsangebot auf Frauen. Warum?
Das ist eine gute Frage. Ich hatte früher überhaupt kein Interesse am Thema Frauen. In meinem privaten Umfeld gab es keine Frauen, die beruflich erfolgreich sein wollten und von fehlenden Perspektiven erzählt haben. Bei meinem damaligen Arbeitgeber war ich die einzige weibliche Führungskraft. Ich hatte einen Vater, der mich gepusht hat, und dann meinen verstorbenen Mann, einige Mentoren, usw. Es waren immer Männer, die mich gefördert haben. Als ich ehrenamtliche Mentorin wurde, habe ich viele Frauen mit Handicap kennengelernt, die das anders erlebt haben. Das war für mich so der ausschlaggebende Punkt: Frauen mit Handicap haben keine Fürsprecher*innen, das will ich ändern! Mein Anspruch ist, das Arbeitsleben zu verändern, um Frauen bessere Möglichkeiten zu verschaffen.
Machst du die Erfahrung, dass Frauen weniger oft nach den Sternen – in diesem Fall nach einer Führungsposition – greifen?
Ja, Frauen denken über das Thema Führung selten nach. Ich selbst fand es toll, Führungskraft zu sein. Ich habe den Gestaltungsspielraum sehr genossen, gerne mitentschieden und meine Kreativität eingebracht. Genau diese Haltung will ich vermitteln. Ich will Frauen ermutigen und ihnen bestätigen, dass gerade typisch weibliche Qualitäten eine gute Führungskraft ausmachen können. Für mich geht die Zukunft von Führung ganz klar weg von den gewohnten Verhaltensstilen hin zu Empathie und Leadership. Meine provokante These ist, dass Menschen mit Handicap diese Entwicklung pushen. Wir sind es gewohnt, um Hilfe zu bitten. Wir sind tendenziell teamfähig, weil wir auf andere angewiesen sind und z. B. ein Team von Pflegepersonen managen. Wir mussten lernen, Schwäche zu zeigen. Wir trainieren tagtäglich, lösungsorientiert zu denken und Konflikte auszuhalten. Das sind im Grunde genau die persönlichen Kompetenzen, die wir von Führungskräften fordern.
Wenn du auf Unternehmen zugehst, um sie für die Beschäftigung von beeinträchtigen Personen zu gewinnen – welche Reaktionen erlebst du? Hast du das Gefühl, dass ein Bewusstsein für dieses ungenutzte Potenzial herrscht?
Spannend. Vergangenen Herbst war ich z. B. im Rahmen der größten Personalmesse in Köln für einen Workshop zum Thema „Menschen mit Beeinträchtigung in Führungspositionen“ angefragt. Wir saßen da und haben gewartet – niemand kam. Das zeigt, dass das Bild einer beeinträchtigten Führungskraft nicht in den Köpfen ist. Ich starte jetzt in Kooperation ein Projekt, um hier Aufklärungsarbeit zu leisten. Einerseits auf politischer Ebene, andererseits in der Arbeit mit großen Unternehmen. Ich bin überzeugt, dass wir andere Rahmenbedingungen brauchen, um das Thema groß zu spielen und eine Veränderung zu erreichen.
Jetzt hatte ich das Bild vom CEO Lunch bei der Münchner Sicherheitskonferenz im Kopf, das vor Kurzem viral ging. Es wird immer gesagt, wenn Frauen nicht mit am Tisch sitzen, werden Frauen nicht mitgedacht. Frauen gibt es gewöhnlich viele in einem Unternehmen – beeinträchtige Personen eher weniger. Hast du eine Empfehlung, wie sich eine Organisation diesem Thema trotzdem nähern kann?
Natürlich macht es Sinn, beeinträchtigte Personen an den Tisch zu holen, um die Perspektive direkt einzubringen. Nachdem ich selbst im Personalbereich gearbeitet habe, denke ich aber, dass das Thema indirekt auch gut über diesen Weg adressiert werden kann. Vermutlich gibt es hier jemanden, der/die sich gut in die Situation hineinversetzen kann. Die HR-Abteilungen beschäftigt außerdem der Fachkräftemangel – sie geraten bei der Suche nach guten Arbeitskräften immer mehr unter Druck. In meiner Wahrnehmung wächst das Bewusstsein langsam. Ich kenne einige Unternehmen, die ihre Behindertenquote deutlich erhöhen wollen. Aber wir haben noch einen sehr langen Weg vor uns.
Die Dimension „Körperliche oder psychische Beeinträchtigung“ ist in sich so wahnsinnig vielfältig. Meinst du, dass es im beruflichen Kontext einen Unterschied macht, ob jemand körperlich oder geistig beeinträchtigt ist? Meine Frage geht dahin, ob psychische Erkrankungen noch unsichtbarer und tabuisierter sind. Dass du im Rollstuhl sitzt, sieht man auf den ersten Blick. Du hast keine Möglichkeit, das du verstecken, und ich würde unterstellen, dass dir niemand die „Schuld“ für deine Beeinträchtigung gibt. Bei psychischen sieht das vermutlich anders aus.
Dazu kann ich eine persönliche Geschichte mit dir teilen. Als ich die Diagnose Multiple Sklerose erhalten habe, habe ich erstmal im Unternehmen nichts gesagt. Ich habe es erst kommuniziert, als ich gemerkt habe, dass ich nicht mehr drum herumkomme. Und dann hat sich mein Standing in der Firma wirklich verändert: Ich wurde erstmal aus zeitkritischen Themen rausgenommen. Ich wurde gefragt, ob man mir einen Stuhl holen soll. Mir wurde gesagt, ich solle nach 17 Uhr nicht mehr arbeiten. Ich habe dann irgendwann klargestellt, dass ich um Hilfe fragen werde, wenn ich Hilfe benötige – und ich ansonsten nicht über meine Krankheit definiert werden möchte. Dass mir nichts mehr zugetraut wurde, hat mich stark getroffen. Ich denke, das ich auch der Grund, warum viele Menschen psychische Probleme so lange als irgendwie möglich verschweigen. Ein Burnout z. B. als persönliche Schwäche einzustufen, ist ein großes Problem.
Zum Abschluss des Gesprächs möchte ich dir eine für mich sehr persönliche Frage stellen. Ich kenne die zu Beginn genannten Berührungsängste – ich bin unsicher, ob und wie ich Menschen mit Beeinträchtigungen ansprechen kann. Bei dir war es einfach, weil du dich auf LinkedIn öffentlich zu diesem Thema positioniert hast. Aber – wissend, dass nicht alle Menschen gleich ticken – hast du einen Tipp für mich?
Ich finde, dass wir als Gesellschaft verlernt haben, unangenehme Dinge auszusprechen. Bei so vielen Themen herrscht völlige Sprachlosigkeit. Das habe ich z. B. auch nach dem Tod meines Mannes erlebt. Ich kam super klar, wenn jemand einfach auf mich zugekommen ist und konkret in dieser Situation gesagt hat: „Frau Schallert, ich habe gehört, Ihr Mann ist gestorben und ich habe keine Ahnung, wie ich damit umgehen soll.“ Das ist komplett legitim. Und ich fühle mich damit wesentlich wohler, als wenn jemand wegsieht. Ich sage allen immer, dass sie Mut zu Fragen haben sollen. Es geht darum, Dinge, die für mich unklar sind, zu hinterfragen. Wir alle lernen voneinander.
Worüber ich nachdenken werde...
Die Diversitätsdimension „Menschen mit Beeinträchtigung“ ist an sich so unglaublich vielfältig. So wie ich Karen kennengelernt habe, würde ich ihr beruflich alles zutrauen. Bis auf behindertengerechte Zugänge und eine entsprechende Infrastruktur gibt es keine Barrieren, um sie als wertvolle Arbeitskraft einsetzen zu können. Natürlich gibt es auch Menschen mit z. B. schwerwiegenden psychischen Beeinträchtigungen, die nicht so einfach in den Alltag eines Unternehmens integriert werden können. Aber deswegen die gesamte Gruppe beeinträchtigter Personen auszublenden und keinen differenzierteren Blick darauf zu werfen, ist fahrlässig.
Welche Erfahrungen habt ihr gemacht? Welche Möglichkeiten werden in eurem beruflichen Umfeld geschaffen, um das Potenzial von Menschen mit Beeinträchtigung zu nutzen?
Führungskraft mit Handicap: Dein Traum?
Karen unterstützt Menschen, die sich im Job unterfordert fühlen, Kompetenzen mitbringen, die sie nicht einsetzen können, und ohne Handicap schon längst auf dem Weg zur Führungskraft wären.
Kleiner Tipp: Unter „Podcasts/TV“ könnt ihr Karen in unterschiedlichen Formaten erleben.
Zahlen, Daten, Fakten
18,5% der österreichischen Bevölkerung haben eine Behinderung. In Summe sind das über 1,5 Millionen Menschen, die von der Wirtschaft als potentielle Arbeitnehmer*innen und Kund*innen nicht wirklich beachtet werden.
Weitere Informationen findet ihr unter:
https://www.myability.org/thought_leadership