Anna (39) ist Expertin für interkulturelle Kommunikation und Trainerin am Schulz von Thun Institut für Kommunikation. Sie bietet u. a. Trainings für interkulturelle Sensibilität an und bereitet Expats auf ihre Auslandsaufenthalte vor. In meinen Interviews fange ich unterschiedliche Perspektiven auf das Thema Diversität ein. Ich denke, dass interkulturelle Kompetenzen eine wichtige Grundlage für das Verständnis und das Ermöglichen von Diversität sind. Genau darüber wollte ich mit Anna sprechen.
Anna, ich freu mich sehr. Ich bin durch LinkedIn auf dein Buch „Transkulturelle Herausforderungen meistern“ und damit auf dich aufmerksam geworden. Wodurch bist du mit dem Thema in Berührung gekommen?
Anna: Ich habe vor meinem Studium einen Sommer in Spanien verbracht und dabei einen Argentinier kennengelernt. Mit diesem Mann bin ich seit 20 Jahren ein Paar, wir haben zwei Kinder. Meine Auseinandersetzung mit interkultureller Kommunikation hat für mich daher sehr persönliche Wurzeln. Ich bin in Folge tief in das Thema eingetaucht, habe viel Literatur dazu entdeckt, mich in meinem Psychologiestudium damit beschäftigt und mich schlussendlich auch beruflich in diese Richtung orientiert. Als Trainerin und Beraterin begleite ich jetzt Menschen, die international unterwegs sind und viel reisen. Wenn ich jemanden auf einen längeren Auslandsaufenthalt vorbereite, kommen unweigerlich auch immer Stereotypen zur Sprache – dabei ist mir bewusst, dass es „die Männer“ und „die Frauen“ genauso wenig gibt wie „die Deutschen“ und „die Spanier“. Genau dieses Spannungsfeld hat mich sehr interessiert.
Ich habe mit einer Interviewpartnerin bereits darüber diskutiert, welche Erkenntnisse einerseits durch eine Kategorisierung möglich sind und wo andererseits die Gefahren liegen, wenn Menschen frühzeitig und dauerhaft in eine Schublade gesteckt werden. Kann man dieses Spannungsfeld deiner Meinung nach überwinden?
Ja! Ich denke, das gelingt durch eine sehr nuancierte Betrachtung. Es gibt eindeutig kulturelle Unterschiede. Nationalkulturen mögen prägend sein, aber interkulturelle Unterschiede gibt es auch zwischen Nord und Süd, zwischen Firmenkulturen, usw. Diese Unterscheidung ist wichtig, weil wir Menschen in Kategorien denken. Menschen identifizieren sich stark mit Kulturen und bauen ihr Selbstkonzept auf diesen identitätsstiftenden kulturellen Zugehörigkeiten auf. Die interkulturelle Kommunikation bietet Begrifflichkeiten, um sich mit diesen Unterschieden auseinanderzusetzen, um sie zu erkennen und zu benennen. Diese Denkweise erleichtert es uns etwa im Ausland, handlungsfähig zu bleiben. Gleichzeitig schafft jede Art der Kategorisierung natürlich Stereotypen und läuft daher Gefahr, Individuen nicht mehr in ihrer Vielfalt wahrzunehmen. Ich verfolge daher den Ansatz, dass diese interkulturelle Betrachtung eine Ergänzung benötigt, um weder in die eine noch in die andere Richtung übertrieben zu werden.
Kannst du darauf genauer eingehen? Wie kann diese Ergänzung aussehen?
Ich habe in meinem privaten Umfeld z. B. die Erfahrung gemacht, dass ich mich manchmal viel „argentinischer“ verhalte als mein Partner. Ich bin viel beziehungsorientierter, weil ich als Frau so sozialisiert und durch mein Psychologiestudium zusätzlich sensibilisiert wurde. Er verhält sich auf der anderen Seite oft typisch „Deutsch“. Das hat viel damit zu tun, dass er von Beruf Programmierer ist. Ich musste mir daher zuerst bewusst machen, dass wir alle ganz viele kulturelle Zugehörigkeiten haben. Dazu mag ich das Konzept der Transkulturalität. Dieses versteht Kulturen nicht als Eisberge, die in sich abgeschlossen sind – z. B. „alle Frauen“ –, sondern als Flusslandschaften mit Unter- und Überströmen. Kulturen vereinen sich, fließen auch wieder auseinander, sind wechselhaft, beeinflussen sich gegenseitig. Dieses Konzept orientiert sich eher an Anknüpfungspunkten, nimmt dafür aber die Struktur und Ordnung aus dem interkulturellen Ansatz. Meiner Meinung nach benötigen wir beide Sichtweisen: Durch die interkulturelle Betrachtung kann ich Unterschiede benennen und zuordnen. Im zweiten Schritt muss es dann aber darum gehen, die Hypothesen, die mit der Kategorisierung verbunden sind, zu überprüfen und Nuancen zu erkennen. Diese beiden Sichtweisen in Kombination ermöglichen ein Hinaus- und Hineinzoomen.
Du begleitest als Coach Personen, die von Unternehmen entsendet werden und eine längere Zeit im Ausland arbeiten. Gibt es dabei Erfahrungen, die du verallgemeinern und mit uns teilen kannst?
Ja gerne. Generell bieten viele Unternehmen ihren Mitarbeiter*innen „Begleitpakete“ an, da kulturelle Unterschiede und Schwierigkeiten bei der Eingewöhnung immer wieder dazu führen, dass Entsendungen vorzeitig abgebrochen werden. Ganz oft arbeite ich auch mit den Partner*innen – tendenziell sind das nach wie vor eher Frauen – derjenigen, die für einen Job ins Ausland gehen. In Sitzungen bereiten wir immer auch auf einen möglichen Kulturschock vor. Ein Kulturschock entsteht durch das Einströmen von zu vielen neuen Stimuli, die das Gehirn überfordern. Vieles, das normal im Automodus läuft, funktioniert auf einmal nicht mehr wie gewohnt. Es gibt nicht den gewohnten Kaffee, es riecht anders, das Wetter ist anders, es gibt Sprachschwierigkeiten – die Wahrnehmungskanäle sind permanent offen und das Gehirn schaltet auf „Notmodus“, wir werden starr und wertend, denken in schwarz und weiß. Und wir erinnern uns: Kultur ist mehr als Nationalkultur. Ein Kulturschock kann nicht nur bei Auslandsaufenthalten eintreten, sondern auch bei einem Umzug im eigenen Land, im Kontrast von Stadt und Land oder beim Wechsel von einem Arbeitgeber zum nächsten.
Das finde ich spannend. Hast du Empfehlungen, wie ein Unternehmen einem Kulturschock entgegenwirken kann? Bzw. etwas sanfter formuliert, wie ein Unternehmen das Zugehörigkeitsgefühl von Mitarbeiter*innen fördern kann?
Hier passt wiederum die transkulturelle Sichtweise, die den Fokus auf das System und die Interaktion zwischen Menschen legt. Aus der Forschung zur Dynamik in Gruppen wissen wir, wenn immer eine neue Person in eine Gruppe kommt, strukturiert sich die Gruppe neu. Eine wichtige Frage ist, ob von vornherein feststeht, wer sich an wen anzupassen hat. Müssen sich Neuankömmlinge an die vorherrschende Kultur anpassen oder ist es ein gemeinsamer Findungsprozess? Diese Frage lässt sich umlegen auf unsere Gesellschaft, auf die Flüchtlings- und Migrationsdebatte, auf das Gender-Thema, usw. Wenn jetzt immer mehr Frauen in Führungsetagen kommen, müssen die sich dann auch typisch männlich verhalten oder dürfen sie auch ihre Werte und Verhaltensweisen mit einbringen? Ich will weg vom „Entweder/Oder“ hin zu „Sowohl/Als auch“. Es gibt Teilwahrheiten, die gleichberechtigt nebeneinanderstehen können, wenn sie erkenntnisstiftend sind.
Ich habe in einigen Interviews schon die Notwendigkeit und gleichzeitig die Gefahren von Kategorisierungen thematisiert. Du hast von einem Hinein- und Herauszoomen gesprochen, um zwischen interkultureller Sicht und einer individuellen Betrachtung zu wechseln. Wie sehr spielt diese Fähigkeit deiner Erfahrung nach ins Thema Diversity mit hinein?
Vielleicht steige ich damit in diese Frage ein: Es gibt Studien, die zu dem Ergebnis kommen, dass sehr heterogene Teams per se nicht besser funktionieren als homogene Teams. Die Führung der Teams entscheidet über deren Erfolg. Wer sich in heterogenen Teams oder Gesellschaften bewegt, muss sehr viel besser mit Konflikten umgehen und Spannungen aushalten können. Wer das kreative Potenzial und die Synergien in diversen Teams nutzen möchte, sollte sich mit kulturellen Unterschieden auseinandersetzen. Dafür ist es zuerst einmal wichtig, die eigenen kulturellen Normen zu kennen und zu wissen, was sich für einen selbst richtig anfühlt. Das beeinflusst sehr stark, wie ich andere bewerte. Fremdes Verhalten erleben wir normalerweise als befremdend und werten es ab. Wenn ich das reflektieren kann, dann kann ich fremdes Verhalten einordnen und es ist nur noch unbekannt oder anders, nicht mehr befremdend. Die zweite Sache ist, zu wissen, wie wir denken. Dass wir über unsere Schubladen nachdenken. Der Anspruch an sich selbst, einfach nur mehr „open-minded“ zu sein, macht hier wenig Sinn – dass wir kategorisieren, ist eine Tatsache. Aber wir sollten daran arbeiten, mit unserem Schubladensystem aufzuräumen, mehr Schubladen aufzumachen und Menschen aktiv in verschiedene Schubladen einzuordnen, um ihren vielfältigen kulturellen Zugehörigkeiten gerecht zu werden.
Buchtipp
„Transkulturelle Herausforderungen meistern. Missverständnisse klären und Kompetenzen stärken“ von Anna Fuchs.
Runter vom Sofa und raus in die Welt!
Wir leben und arbeiten immer internationaler. Was aber passiert, wenn Menschen unterschiedlicher Herkunft zusammenkommen, sei es im Berufsleben, im Alltag, auf Reisen oder beim Umzug in ein anderes Land? Anna Fuchs zeigt praxisnah, wie transkulturelle Herausforderungen souverän gemeistert werden können und verbindet dafür Kulturtheorie mit psychologischen Konzepten. Darüber hinaus macht sie konkrete Vorschläge, wie Methoden und Modelle des kommunikationspsychologischen Werkzeugkoffers eingesetzt werden können, um in einer immer diverseren Welt zu einem echten Miteinander auf Augenhöhe beizutragen.
https://www.rowohlt.de/buch/anna-fuchs-transkulturelle-herausforderungen-meistern-9783499000638
Worüber ich nachdenke...
Anna hat mich darauf aufmerksam gemacht, dass auch Gender eine Kulturdimension ist, weil damit verschiedene Forderungen an die Mitglieder verbunden werden. Während wir unterschiedliche Nationalkulturen haben (Anna ist Deutsche, ich bin Österreicherin), haben wir viele andere Kulturen gemeinsam: Wir sind beide Frauen, wir sind Mütter und haben eine ähnliche Generationskultur.
Welche Kulturen prägen mich?
Definition
Transkulturalität
Anna hat im Interview auf Wolfgang Welsch verwiesen. Dieser hat den Begriff der Transkulturalität eingebracht. Weiterführende Infos findet ihr z. B. hier:
Das Wertequadrat
Das Werte- und Entwicklungsquadrat von Schulz von Thun
Anna hat erklärt, warum es ihrer Meinung nach notwendig ist, Dazu hat sie das Wertequadrat von Schulz von Thun angesprochen. Er erklärt damit, dass jede Sichtweise übertrieben werden kann.
https://www.schulz-von-thun.de/die-modelle/das-werte-und-entwicklungsquadrat