Bernhard ist Head of Data, Integration & Insights bei einem großen Technologieunternehmen mit nordischer Geschichte, das sich nicht mehr damit beschäftigt, was Technologie leisten kann – sondern was sie leisten sollte. Im Interview habe ich einen Einblick erhalten, wie Arbeit im skandinavischen Raum gesehen wird und welche Rollenbilder die Gesellschaft prägen. Da gibt es durchaus einige Inspirationen, an denen wir uns orientieren könnten. Diese spannenden Einblicke teile ich gerne mit euch.

 

Bernhard, ich freu mich sehr auf deine Perspektive. Du arbeitest für ein nordisches Unternehmen. Wie hat das deinen Blick auf die Arbeitswelt beeinflusst?

Bernhard: Ich habe ein Jahr in Finnland studiert und arbeite bereits das vierzehnte Jahr für ein nordisches Unternehmen. Wenn ich mit meiner Freundin, die früher in einem traditionell geführten Bundesunternehmen gearbeitet hat, über die Arbeit gesprochen habe, dann prallten da zwei Perspektiven aufeinander. Ich habe z. B. in meinem Arbeitsumfeld nie wahrgenommen, dass Frauen und Männer unterschiedliche Chancen im Job haben. Bei uns im Unternehmen nehmen sich Männer genauso freie Tage für Kinderbetreuung oder andere private Angelegenheiten. Das Bild, das ich aus dem skandinavischen Bereich mitgenommen habe, ist, dass Männer und Frauen gleichberechtigt ihre Karrieren verfolgen und sich auch die Care-Arbeit teilen. Ich habe eine Vielzahl von Frauen erlebt, die nach der Karenz mit einem verfeinerten Gespür für Menschen zurückgekommen sind. Gerade in einem Unternehmen, das ständig am Brückenschlag zwischen Technologie und Mensch arbeitet, ist das wesentlich. Da ist es nur logisch, dass auch Führungspositionen entsprechend besetzt werden.

 

Hast du das Gefühl, dass es deinem Unternehmen durch diese flexiblen Rahmenbedingungen besser gelingt, gute Mitarbeiter*innen zu rekrutieren und zu halten?

Ja, definitiv. Ich denke, dass Unternehmen viel zu statisch nach neuen Arbeitskräften suchen. Es gibt massiv viele gute Leute, die allerdings aus unterschiedlichen Gründen nicht Vollzeit arbeiten wollen. In der IT-Beratungsbranche, in der ich tätig bin, funktioniert es, dass Teilzeitkräfte tolle Projekte abwickeln. Das Team zur digitalen Vignette in Österreich wird bspw. von einer großartigen Kollegin geleitet, die Teilzeit arbeitet. Ich bin überzeugt davon, dass wir als Unternehmen mehr erreichen können, wenn wir mit der entsprechenden Flexibilität auch diese tollen Kolleg*innen einbinden können – unabhängig von der Anzahl der Stunden.

 

Was würdest du als charakteristisch für die Zusammenarbeit in eurem Unternehmen bezeichnen? Wie arbeiten Teams zusammen?

Ich bringe da gerne das Beispiel von Ziegeln und Mörtel. Wir brauchen einerseits Experten wie z. B. SAP-Berater*innen, Programmierer*innen und Tester*innen, die Projekte technisch umsetzen. Das sind die Ziegel der Wand. Vor allem bei großen Vorhaben braucht es neben diesen aber auch Kräfte, die alle zusammenhalten, zwischen den Bereichen bzw. Sichtweisen vermitteln und das Handlungsfeld erweitern. Es ist für alle ein Vorteil, wenn jemand mit im Projekt ist, der anders agiert und reagiert. Gerade Frauen bringen oft diese Qualitäten mit und können mit ihrer Empathie die Zusammenarbeit im Team auf ein höheres Level heben. Ich denke, dass das eine super essenzielle Komponente ist, die jedem Team guttut. Auch die Sicht- und Herangehensweisen werden vielfältiger, wenn unterschiedlich denkende Personen mitarbeiten.

 

Meiner Meinung nach stellen viele Unternehmen nach Lebenslauf und fachlichen Fähigkeiten, weniger nach emotionalen Kompetenzen ein. Ich habe schon oft darüber nachgedacht, ob es nicht auch Sinn machen würde, ganz bewusst menschliche Qualitäten ins Team zu holen. Wenn ich dich richtig verstanden habe, macht ihr das?

Ja. Das geschieht zwar nicht dezidiert bei jedem Projekt oder in jeder Situation. Aber wenn ich jemanden einstelle, dann überlege ich vorher ganz bewusst, welche Qualitäten ich mir wünsche und was das Team brauchen würde. Dabei kann ich zu der Entscheidung kommen, dass ich eine Person hole, die inhaltlich Null mit unserem Metier zu tun hat, das Team aber „rundherum“ gut unterstützen kann. Gerade weil diese Person sich nicht über eine bestimmte Rolle wie z. B. Entwickler*in definiert, kann sie das Team super ergänzen. Mir kommt vor, dass es da dann eine offenere Haltung gibt und Stimmungen oder zwischenmenschliche Themen viel besser erfasst und auch angesprochen werden. In meiner Wahrnehmung verstehen immer mehr Führungskräfte, dass solche Personen eine Bereicherung sind und sich unterm Strich bezahlt machen. Wir haben z. B. auch ein Team an „Catalysts“ im Unternehmen, deren Rolle es ist, Zusammenarbeit zu verbessern. Das ist aus dem agilen Coaching entstanden, wobei der Fokus nicht immer auf Agilität liegt – es geht vor allem darum, unterschiedliche Stärken sinnvoll einzubringen.

 

Das klingt sehr spannend. Du bist selbst Führungskraft. Wie definierst du deine Rolle?

Ich mag die Idee, dass ich mich neben den unterschiedlichen Projektteams bewege und versuche, diese bestmöglich zu unterstützen. Das passiert meiner Ansicht nach idealerweise mit einem Angleich bzw. Abgleich von unterschiedlichen Sichtweisen. Umgekehrt gesagt: durch das Stärken von gemeinsamen handlungsleitenden Bildern. Das ist auch der Kern meiner Aufgabe: ein breites Spektrum von Expertensichtweisen so in technischen Systemen zu kanalisieren, dass sich für unsere Kunden konkurrenzfähige neue Handlungsmöglichkeiten ergeben. Das ist ein ständiger Abgleich von Perspektiven. Und gerade da, wo wir es schaffen, aus vormals großen Unterschieden oder Widersprüchen konsistente Lösungen zu bilden, liegt unser größtes Potenzial am Markt. Ein konkretes Beispiel: Aus einem Pickerl auf der Windschutzscheibe wird ein eleganter digitaler Mechanismus.

 

Ihr brecht also bewusst mit traditionellen Managementgedanken, um das Zusammenwirken von unterschiedlichen Sichtweisen besser zu ermöglichen?

Ja genau! In unserer Organisation gibt es gerade ein umfangreiches Programm, bei dem jede*r im Bereich Leadership geschult wird. Das Ziel ist, dass jede*r eine Idee von Eigen- und Fremdführung entwickelt. Gerade in Österreich ist die Organisation sehr flach: Wir sind die Summe aus ca. 20 Gruppen, die jeweils ein Zusammenschluss von Personen mit ähnlichen Skills sind. Diese haben einen People Manager und spielen periodisch oder anlassbezogen Delegation Poker*. Dabei definiert die Gruppe selbst für unterschiedliche Handlungsfelder auf einer Skala von eins bis sieben, ob es sich komplett selbst steuern möchte oder lieber konkrete Anweisungen bekommt.

 

Ich frage mich, ob diese Autonomie für einen Großteil der Menschen passt bzw. in den meisten Organisationen funktionieren würde. Hast du dazu eine Meinung?

Wir sehen auf jeden Fall, dass wir mit unserer Organisationskultur bei Jobeinsteigern punkten können. Seniore Mitarbeiter*innen, die sehr hierarchische Strukturen gewohnt sind, haben schon eine gewisse Orientierungsphase. Die müssen sich oft erst daran gewöhnen, dass wir sehr buttom up arbeiten und jede*r selbst seine Schwerpunkte gestaltet. Dieses Modell ist auch nicht in jeder Situation besser und wir sind ständig am Lernen. Ich bin aber überzeugt, dass das einerseits den Mitarbeiter*innen entgegenkommt und andererseits das Unternehmen profitiert, wenn alle sich damit einbringen, was sie am besten können.

 

Wie geht es dir persönlich mit der Flexibilität, die das Unternehmen dir bietet?

Für mich ist es extrem wichtig und wertvoll, diesen Spielraum zu haben. Einerseits kann ich dadurch meine unterschiedlichen Rollen viel besser aufeinander abstimmen und ein präsenter Papa sein. Auf der anderen Seite könnte ich mir generell nicht vorstellen, in einem Unternehmen zu arbeiten, wo sich meine Arbeit bzw. meine Arbeitszeit daran orientiert, was gesetzlich gefordert ist. Ich nutze die Freiheit, die mein Unternehmen mir bietet, indem ich versuche, Ergebnisse für das Unternehmen zu schaffen. Wenn sich Arbeitnehmer*innen am Gesetz festhalten müssen und überlegen, was ihnen zusteht, kann das nur mäßig gute Ergebnisse bringen. Die Frage sollte vielmehr sein: Wie gestalte ich meine Arbeit so, dass das für mich passt und für die Firma bzw. Kunden am meisten bringt. Auf Seite des Unternehmens sollte der Anspruch sein, Mitarbeiter*innen ein Umfeld zu geben, indem sie ihr besonderes Potenzial einbringen können.

 

Potenzial einbringen und entfalten sind schöne Schlagwörter. Was bedeutet das konkret für dich in deinem Leben?

Das bedeutet Gewohnheiten neu denken! Was passiert, wenn ich am Mittwoch Vormittag etwas mit meinem Sohn unternehme? Was geht sich dann nicht mehr aus? Was macht das Umfeld? Wie passt das zu meiner Rolle im Unternehmen? Die Firma kann immer nur den Rahmen schaffen. Es braucht auch den Mut, solche Versuche zu starten. Hier wird schnell klar: Zu etwas Ja zu sagen, bedeutet auch, zu etwas anderem Nein zu sagen. Das verändert einen dann auch. Und genau da liegt ein tolles Potenzial für Männer: Kinderbetreuungszeit nutzen! Nicht nur als willkommene Abwechslung vom hektischen Business-Flow oder um die Partnerin endlich besser zu verstehen, sondern als wundervolle Chance, das eigene Wesen auszufüllen. 

 

Fehlen deiner Ansicht nach Beispiele für Männer, um aus traditionellen Mustern auszubrechen?

Ja! Wenn ich anfänglich von Frauen in Finnland gesprochen habe, die einen anderen Lebensentwurf umsetzen, dann gibt es dazu natürlich auch eine „Männerseite“. Männer in verantwortungsvollen Rollen zu erleben, die über typische Muster hinausgehen, hat mir enorm geholfen.

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CATALYSTS

Diesen Ansatz finde ich extrem spannend. Wie seht ihr das?

Bernhard hat von den Personen im Unternehmen erzählt, die die technische Energie der Fachexperten bündeln und als kommunikative Schnittstelle die Bedürfnisse der Kunden bzw. die internen Anforderungen verstehen. Ich habe schon oft darüber nachgedacht, ob das nicht Sinn macht und warum meiner Erfahrung nach viel zu wenig darauf geachtet wird.

Welche Erfahrungen habt ihr damit? Meint ihr, es macht sich bezahlt, die technischen Experten durch zwischenmenschliche Kompetenzen zu ergänzen?

Wieder etwas gelernt

Wisst ihr, was „Delegation Poker“ ist? Das ist eine Technik für Teams, die Delegation spielerisch thematisiert, um Handlungsregeln für das Miteinander und das Treffen von Entscheidungen abzuleiten. Eine genauere Beschreibung findet ihr z. B. unter diesem Link:

Was ist Delegation Poker? – Wissen kompakt – t2informatik