Gerhard (58) und ich haben in der gleichen Unternehmensgruppe gearbeitet. Ich kenne ihn als interessierten, kontaktfreudigen und versierten Gesprächspartner. Gerhard hat sich auf meinen ersten Interviewaufruf gemeldet und ich war sehr gespannt, welche Perspektive er auf das Thema Diversity mitbringt. Ihr könnt im Interview nachlesen, welche Vergleiche Gerhard in Bezug auf seine Berufserfahrungen in unterschiedlichen Positionen und Branchen anstellt und wie er der Genderthematik begegnet. 

 

Gerhard, was reizt dich am Thema Diversität? Welche Berührungspunkte siehst du in deinem beruflichen und privaten Umfeld?

Gerhard: Unabhängig von Beruf oder Freizeit interessieren mich die Unterschiede und Gemeinsamkeiten von Menschen bzw. von Gruppen. Während meiner 25-jährigen Trainertätigkeit am WIFI waren es z. B. immer die Teilnehmer*innen, die ich am spannendsten fand. Ich mag es, Menschen kennenzulernen und etwas aus ihrer persönlichen Geschichte zu erfahren. Ich beobachte auch sehr interessiert, wie wir als Gesellschaft mit dem Thema Frauen und Männer umgehen und wie wir beide Geschlechter in unsere Welt integrieren. Wenn man in der Geschichte weiter zurückblickt, dann haben sich Frauen klassisch um die Familie und den Nachwuchs gekümmert, Männer waren jagen. Diese Prägung wirkt bis heute nach. Ich denke in Verbindung damit allerdings über den Aspekt von Macht in der Familie nach und da sehe ich die Frau genauso im Vordergrund wie den Mann. In meiner Wahrnehmung hat sich in den vergangenen 30 bis 50 Jahren die führende Stellung der Frau in der Familie verstärkt.

 

Das ist ein spannender Gedanke. Ich betrachte die Rolle von Frauen in der Familie bzw. im Haushalt immer aus einer anderen Perspektive. Wie erlebst du Frauen als Familienoberhaupt?

Ich bin privat gerne mit dem Motorrad unterwegs, vor allem in Mitteleuropa – meine weiteste Reise führte mich nach Montenegro. Wenn ich dort in den ländlichen Gegenden mit jemandem ins Gespräch kam, hatte ich immer den Eindruck, dass die Familiengefüge sehr gut funktionieren und eine Familie sich als Einheit betrachtet. Die Arbeitsteilung ist weit weniger strikt als bei uns. Beruflich und privat wird weit weniger zwischen den Geschlechtern unterschieden. Bei uns – vor allem in den Ballungsräumen – nehme ich eher einen Kampf zwischen der Männer- und der Frauenwelt wahr. Jede*r versucht, die eigene Stellung zu behaupten, wobei es beruflich traditionell Männer sind, die sich durchsetzen. Im Bereich der Landwirtschaft habe ich auch in Österreich den Eindruck, dass Frauen sehr oft das „Management“ übernehmen und einen Hof führen.

 

Wenn du davon sprichst, dass Männer und Frauen in unserer Gesellschaft um ihren Rang kämpfen: Hast du als Mann das Gefühl, dass du dich behaupten musst?

Ich persönlich habe diesen Eindruck nicht, in komme sowohl beruflich als auch privat sehr gut mit Frauen und Männern aus. Allgemein versuche ich, keinen Unterschied zu machen, ob ich mit einem Mann oder einer Frau spreche. Wenn ich an mein berufliches Umfeld denke, dann nehme ich allerdings ein Ungleichgewicht wahr. Ich kann mir gut vorstellen, dass es Männer gibt, die sich von starken Frauen bedroht fühlen und in eine Abwehrhaltung fallen.

 

Du hast beruflich schon unterschiedliche Stationen absolviert. Hast du in Bezug auf die Gender-Thematik Unterschiede erlebt, die du an gewissen Umständen festmachen kannst?

Ja, auf jeden Fall. Eine meiner beruflichen Stationen war die Mitarbeit in einem Team, das sich mit Innovationen beschäftigt hat. Dort hatten wir ein sehr ausgeglichenes Geschlechterverhältnis und ambitionierte Frauen und Männer in allen Positionen. Auch aus dem Trainingsumfeld kenne ich viele Frauen, die erfolgreich ihren Weg gehen. Da spielt es überhaupt keine Rolle, ob Frau oder Mann – da zählen allein die persönlichen und fachlichen Kompetenzen. Der klassische Industriebetrieb tickt da wieder anders: So, wie ich das erlebe, gibt es kaum Frauen in Führungspositionen. Hier sind eindeutig die Männer am Zug.

 

Wenn du diese Stationen vergleichst: Macht es für dich einen Unterschied, wenn Frauen bei Entscheidungen gleichberechtigt miteinbezogen werden? Verändert sich die Qualität der Zusammenarbeit, wenn Frauen im Team sind?

Deutlich, ja. Frauen im Team fördern die Ideenvielfalt – viele Start-ups setzen daher bewusst auf diverse Teams. Im Bereich von Start-ups fällt mir außerdem auf, dass sowohl Männer als auch Frauen engagiert ihre Ideen verfolgen und zu einem Geschäftsmodell entwickeln. Um dieses Gleichgewicht auch in der traditionellen Industrie in Österreich zu erreichen, müssten sich meiner Meinung nach Frauen deutlich stärker vor den Vorhang trauen. Ich sehe, dass es Männern in diesen Branchen viel leichter fällt, Karriere zu machen und eine Führungsposition zu erreichen. Wenn sich ein Mann und eine Frau mit gleichen Qualifikationen um eine Position bewerben, glaube ich, dass Männer bevorzugt behandelt werden. Die Ursache vermute ich darin, dass Männer die Entscheidung treffen, wer eingestellt wird.

 

Hast du eine Idee, warum Männer andere Männer promoten?

Ohne es wirklich zu wissen, wäre meine Vermutung, dass viele Männer in entscheidungsrelevanten Positionen um die 45 Jahre oder etwas älter sind und noch ein sehr klassisches Weltbild mitbringen. Wer selbst in einem patriarchalen System groß geworden ist und ein dementsprechendes Werte- bzw. Rollenbild mitbekommen hat, wird kaum einer Frau eine Führungsposition überlassen. Bei jüngeren Managern mit offenerem Blick auf die Welt könnte ich mir vorstellen, dass die Entscheidung anders ausfällt. Wenngleich ich jetzt in Klischees spreche: Frauen bringen ein Handlungsfeld mit, auf dem sie agieren können und das Männern größtenteils fehlt – damit meine ich die Gefühlsebene. Diese speziellen zwischenmenschlichen Stärken sind in vielen Jobpositionen ein absoluter Mehrwert. Bzw. denke ich, dass wir diese Kompetenzen in der Wirtschaft, wie wir sie heute sehen, immer mehr brauchen. Der ständige Leistungs- und Erwartungsdruck wird uns nicht weiterbringen.

 

Du sprichst von Männern über 45 und bist selbst 58 Jahre alt. Ich hatte in jeder unserer Begegnungen, an die ich mich erinnere, ein sehr wertgeschätztes Gefühl. Wir sind uns auf Augenhöhe begegnet. Meinst du, du unterscheidest dich vom Klischee?

Allgemein geht es natürlich darum, wie liberal ich als Mensch bin. Das hat meiner Meinung nach damit zu tun, was ich erlebt habe, wie ich erzogen wurde, in welchem Umfeld ich aufgewachsen bin. Für mich ist die Begegnung mit einem anderen Menschen immer eine Chance. Ich wundere mich sehr, warum manche nicht sehen, wie wertvoll der Austausch mit einer andersdenkenden und andersfühlenden Person ist.

 

Vielleicht darf ich dir noch eine Frage in Bezug auf dein Alter stellen. Welches Feedback bzw. welche Resonanz bekommst du von Kolleg*innen und Businesspartner*innen?

Ich gehe nicht mit der Einstellung auf andere zu, dass ich aufgrund meines Alters und meiner Erfahrung die Welt erklären kann. Aber ich stelle gern das Angebot, dass ich bei Fragen als Sparringpartner zur Verfügung stehe. Ich bin überzeugt, je vielfältiger ein Thema beleuchtet wird, desto besser wird auch das Ergebnis bzw. desto tragfähiger ist die Entscheidung. Wenn ich eine „große“ Entscheidung treffen muss, schätze ich es sehr, mich vorab mit vielen Personen auszutauschen und deren Meinung abzuholen. Das ist unabhängig davon, wie viel Erfahrung ich selbst schon gesammelt habe. Für mich haben ältere Arbeitnehmer*innen genauso ihre Berechtigung wie ganz junge Menschen. Ich interessiere mich dafür, ob jemand fachlich kompetent ist, relevante Erfahrung einbringt und/oder über menschliche Kompetenzen verfügt. Die Art des Miteinanders und die Summe der Fähigkeiten bestimmen den Erfolg.