Norbert (45) und ich haben im beruflichen Kontext schon einige gemeinsame Stunden verbracht, ohne wirklich eng zusammenzuarbeiten. Ich war sehr gespannt, was er mir erzählen wird, und hatte nicht mit einem so persönlichen Interview gerechnet. Norbert hat das Bild, das ich von ihm hatte, um ein paar Geschichten erweitert und mich ein paar mehr Schubladen für ihn öffnen lassen. Wir unterhielten uns über Trauer und psychische Belastungen, Berufswahl und Ausbildung und über seine Kombination aus Hardcore-Techniker und Menschenversteher.
Norbert, ich freu mich sehr auf das Gespräch mit dir. Mit meiner Einstiegsfrage hole ich meistens den persönlichen Zugang zum Thema Diversity ab. Was verbindest du mit diesem Begriff?
Norbert: Mein Zugang zu Diversität kommt aus einer sehr persönlichen Perspektive. Als ich 15 Jahre alt war, starb plötzlich mein Vater. Das hat von einem Tag auf den anderen alles verändert. In vielen Situationen fühlte ich mich nicht mehr zugehörig. Gefühlt wurde ich auf einmal von allen anders behandelt. Ich hatte z. B. gerade eine Lehre angefangen und als ich eine Woche nach dem Todesfall wieder zurückkam, wussten zwar alle Bescheid, aber niemand sagte etwas. Diese seltsame Spannung hing immer irgendwie in der Luft. Und ich hing auch in der Luft. Ich hatte wirklich das Gefühl, dass ich mich selbst neu erfinden muss. Ich war es gewohnt, von meinen Eltern eine Richtung vorgegeben zu bekommen, das war auf einmal weg. Meine Mutter hatte mit uns vier Geschwistern und der neuen Situation natürlich genug Aufgaben. Darum mussten wir Kinder viel stärker Verantwortung für uns selbst und für unseren weiteren Lebensweg übernehmen.
Norbert, danke, dass du das mit mir teilst. Damit hatte ich nicht gerechnet. Darf ich nachhaken, wie bist du mit diesem „Anderssein“ umgegangen?
Ich hatte etwas erlebt, das andere Jugendliche und auch Erwachsene nicht erlebt hatten und auch nicht nachvollziehen konnten. Daher konnte ich mich nicht über den Tod meines Vaters austauschen. Was mir in dieser Zeit enorm geholfen hat und mir Rückhalt gab, war die Musik. Seit meinem siebten Lebensjahr musiziere ich. Damals habe ich in mehreren Musikgruppen mitgespielt und dabei auch eine Frau kennengelernt, die ein ähnliches Schicksal erfahren hatte. Ich hatte erlebt, wie ein nahes Familienmitglied von einem Moment auf den anderen aus dem Leben gerissen wurde, sie hat ein nahes Familienmitglied beim Sterben begleitet. Mit dieser Frau lebe ich seit 28 Jahren zusammen, wir sind verheiratet, haben ein Haus gebaut und eine Familie gegründet. Wir leben ein sehr schönes Leben, aber die Erfahrungen sind immer wieder präsent.
Im Rahmen von Diversity wird auch der Umgang mit psychischen Belastungen wie z. B. das Thema Trauer am Arbeitsplatz diskutiert. Du warst damals noch sehr jung, aber kannst du dich erinnern, was du dir von deinem Arbeitgeber gewünscht hättest?
Ich war damals bei einem großen Industrieunternehmen beschäftigt. Abgesehen von dieser seltsamen Stimmung habe ich keine Sonderbehandlung erlebt, es wurde kein Unterschied gemacht. Ich wurde weder besser noch schlechter gestellt. Für mich war es gut, dass ich ordentlich weiterarbeiten konnte und genauso gefordert wurde wie alle anderen. Das gab mir ein Stück Normalität zurück. Auf der anderen Seite war das Angebot an psychologischer Unterstützung vor 30 Jahren noch ganz anders als heute. Ich musste bzw. durfte meinen Weg selbst finden. Für mich persönlich war das kein Nachteil, aber die Bedürfnisse sind natürlich unterschiedlich. Ich finde es gut, dass Unternehmen sich heute mit Trauer und anderen psychischen Belastungen auseinandersetzen und ihre Mitarbeiter*innen bestmöglich unterstützen.
Ich erlebe dich beruflich als jemanden, der in alle Richtungen denkt, als Techniker und als empathischen Menschen, der sich gut in andere hineinversetzen kann. Wie siehst du dich selbst? Inwiefern spielt deine persönliche Biographie in deine berufliche Entwicklung hinein?
Dass ich schon in sehr frühen Jahren selbständig und auf mich gestellt war, hat mich bestimmt geprägt. Mit meinem Vater habe ich außerdem sehr gern große Holzarbeiten gemacht und mich handwerklich betätigt. In der Zugehörigkeit zu mehreren Musikgruppen auch im internationalen Kontext habe ich eine intensive Verbindung und starken Teamgeist erlebt. Ich arbeite von Natur aus gerne an Aufgabenstellungen, für die es noch keine Lösung gibt. Ich war immer schon sehr wissbegierig und ehrgeizig. Mich nicht nur beruflich, sondern insgesamt weiterzubilden, war mir sehr wichtig. Nachdem ich in dem Unternehmen, in dem ich meine Lehre absolviert habe, keine Entwicklung mehr gesehen habe, bin ich ausgestiegen und habe 15 Jahre selbständig gearbeitet. In dieser Zeit habe ich sehr viel gelernt, mich zweimal neu aufgestellt und viele Erfahrungen gesammelt. Dass ich danach wieder in eine Konzernstruktur gepasst habe, hat mich anfangs gewundert. Aber es fühlt sich sehr stimmig für mich an. Aktuell bin ich in einer führenden Position in der Vorentwicklung tätig.
Wenn du auf deine Karriere blickst: Worauf bist du stolz? Was war dir wichtig in deiner Entwicklung?
Mein Papa war Tischler und wollte, dass ich den gleichen Beruf erlerne. Meine Mutter hat es mir ermöglicht und mich ermutigt, mir auch andere Berufsbilder anzuschauen. Sie hat sich dafür eingesetzt, dass ich beruflich machen konnte, was ich wollte. Eine weiterführende Schule bzw. eine akademische Option waren allerdings nicht möglich. Mein Zugang war deshalb, mir Wissen selbst anzueignen. Ich war überzeugt, dass ich alles, was ich in einer Schule lerne, auch selbst studieren kann. Natürlich fehlt mir insgesamt das fundierte theoretische Wissen, aber das gleiche ich durch praktisches und erarbeitetes Know-how aus. Wenn ich etwas lese, dann überlege ich gleich, wie ich das, was ich gelesen habe, umsetzen kann. Und wie es mir gelingen kann, es noch besser zu machen. Das beschreibt gut, was mich antreibt. Ich bin ein Praktiker, der gerne Neues ausprobiert und das Bestehende verbessert. So komme ich automatisch in Ebenen, in denen noch niemand unterwegs war.
Jetzt brichst du gerade ein wenig aus dem Bild aus, das ich von dir hatte. Für mich warst du der ruhige, nachdenkliche Typ. Weniger Praktiker, mehr Grübler. Hast du dieses Feedback auch schon von anderen erhalten?
Ich bin vermutlich nicht so leicht in eine Schublade zu stecken. Das hat auch wieder sehr private Hintergründe. In einer familiären Krisensituation habe ich beschlossen, eine psychologische Ausbildung zu machen, weil ich helfen wollte. Für mich ist es sehr wichtig, die Herausforderung zu verstehen. Da ich in dieser Situation nicht verstehen konnte, wollte ich mich weiterbilden. Durch meine systemischen Ausbildungen wurde das Thema Mensch immer spannender für mich. Ich habe gemerkt, dass ich auch im beruflichen Kontext davon profitiere. Gleichzeitig habe ich gelernt und verstanden, dass ich das Problem im privaten Umfeld nicht für die andere Person lösen konnte. Mein psychologisches Verständnis war aber insofern hilfreich, als ich ein guter Begleiter war, der wichtige Fragen stellte und somit diese Person dabei unterstützte, das Problem für sich zu lösen. Fragen lösen neue Bilder und somit neue Denkweisen aus, das fasziniert mich. Diese Kombination aus Hardcore-Techniker und Menschenversteher mag ich wirklich sehr an mir.