Lisa (29) verfolgt mit viel Leidenschaft ihr eigenes Projekt: Sie will eine neue Karriereplattform und ein Software-Plugin entwickeln, die die individuellen Stärken und Kompetenzen einer Person in den Vordergrund stellen. Im Interview hat mir Lisa erzählt, welche persönlichen Beweggründe sie antreiben. Ein Thema, das ihr sehr am Herzen liegt, sind unterschiedliche Privilegien bei Bewerbenden. Ein weiterer Schwerpunkt unseres Gesprächs drehte sich aufgrund von Lisas Borderline-Persönlichkeitsstörung um das Thema psychische Erkrankungen im Berufsleben.

 

Lisa, ich freu mich sehr, dass du auf mich zugegangen bist. Ich bin gespannt auf deine Perspektive. Wo sind deine Bezugspunkte zum Thema Diversity?

Lisa: Ich habe angefangen, mich mit Diversität auseinanderzusetzen, als ich ziemlich erfolglos auf Jobsuche war. Ich habe das immer und immer wieder hinterfragt und mich schließlich mit Personalauswahlprozessen und insbesondere mit Personalauswahlsoftware beschäftigt. Mir ist aufgefallen, dass die Vorselektion von einigen wenigen Menschen getroffen wird, die nicht nur durch die eigenen Bias, sondern auch durch oftmals sehr strikte Anforderungsprofile eingeschränkt werden. Die Personalauswahl ist für mich einer der zentralen Hebel, um mehr Diversität in Unternehmen und Organisationen zu bringen. Wir müssen disruptive Wege gehen und uns viele neue Impulse holen, die wir inkludieren und zu fixen Bestandteilen des Systems machen. Ich bin überzeugt, dass Diversity zu Chancengleichheit, Innovation und Wachstum führt.

 

Danke für diese persönlichen Einblicke. Magst du mir erzählen, was deiner Meinung nach die K.-O.-Kriterien in deiner Bewerbung waren? Mir sitzt virtuell eine junge, engagierte Frau gegenüber – ich wüsste nicht, warum ich dich nicht zu einem persönlichen Gespräch einladen sollte!?

Zum einen vermute ich, dass mein Privatstudium nicht den gleichen Stellenwert hat wie ein Abschluss an einer anerkannten staatlichen Universität. In Bewerbungssoftwareprogrammen sind Ausbildungsstätten mit einem Ranking hinterlegt. Durch meine vergangenen Entscheidungen in Bezug auf meine Ausbildung habe ich außerdem keinen geradlinigen Verlauf. Meinen Bachelor habe ich in Medienmanagement gemacht, ich wollte Richtung Verlag oder Journalismus. In meinem Master habe ich Unternehmenskommunikation studiert und wollte in den Bereichen CSR oder PR arbeiten. Nach erfolgloser Jobsuche beende ich dieses Jahr meinen zweiten Masterstudiengang mit dem Schwerpunkt Unternehmensführung. Durch die Pandemie und mein Alter habe ich meine Berufschancen weiter sinken sehen. Deshalb habe ich beschlossen, mir selbst einen Job zu schaffen. Ich arbeite an einer Karriereplattform bzw. einem Plugin für eine objektive, breiter angelegte Personalauswahl. Mein Anspruch ist allerdings nicht, Arbeitnehmer*innen nur deswegen einzustellen, weil diese einer benachteiligten Bevölkerungsgruppe angehören – es geht darum, den „Fachkräftemangel“ zu bekämpfen, indem ein breiterer Pool an Bewerbenden berücksichtigt wird.

 

Das klingt spannend. Wo muss deiner Meinung nach angesetzt werden, um diese bereitere Perspektive auf Bewerbende bzw. generell auf potenzielle Mitarbeiter*innen zu bekommen?

Das größte Problem sehe ich aktuell darin, dass nicht jede Person die gleichen Privilegien hat und dadurch die gleichen beeindruckenden Stationen im Lebenslauf aufweisen kann. Erst durch Chancengleichheit kann Gleichberechtigung entstehen. Wenn ich eine Idee für eine gute Alternative hätte, würde ich den Lebenslauf überhaupt abschaffen. Mein Ansatz geht dahin, dass die persönlichen Stärken besser erfasst werden – etwas, das nur bedingt aus schulischer Ausbildung und beruflichem Werdegang hervorgeht. Ein weiterer Ansatzpunkt wäre, die Personalbeschaffung nicht an Agenturen oder Headhunter auszulagern. Dass die Macht über das wichtigste Asset eines Unternehmens an Externe ausgelagert wird, kann ich überhaupt nicht nachvollziehen.

 

Gibt es Diversitätsdimensionen, die dir besonders wichtig sind und die du im Rahmen deiner Softwareentwicklung im Fokus hast?

Ich mag Diversität in all ihren Facetten, aber es gibt Dimensionen, denen ich besondere Aufmerksamkeit widme. Dazu gehören Menschen mit Migrationsgeschichte, weil ich da sehr wenig Sichtbarkeit in Führungspositionen wahrnehme. Nachdem ich selbst eine diagnostizierte Borderline-Persönlichkeitsstörung habe, ist mir auch die Berücksichtigung von körperlichen und psychischen Beeinträchtigungen sehr wichtig. Ich habe viele Freunde mit chronischen sowie psychischen Erkrankungen wie Multipler Sklerose oder ADHS, die sie für den „ersten Arbeitsmarkt“ sehr unattraktiv machen. Dabei bringen diese Menschen auch Potenziale und teilweise sehr besondere Stärken mit, die bei anderen weniger ausgeprägt sind. Ich habe außerdem mehrfach versucht, als Quereinsteigerin am Arbeitsmarkt Fuß zu fassen und war wenig erfolgreich. Daher will ich auch für Quer- und Wiedereinsteiger*innen, Mütter und Väter eine Bühne schaffen. In meiner Wahrnehmung gibt es keinen Fachkräftemangel, es wird nur zu engstirnig auf Bewerber*innengruppen geschaut. Wenn ich z. B. jemanden für den Kundendienst suche, dann kann das genauso eine ehemalige Bibliothekarin sein, die einfach gerne mit Menschen arbeitet und sehr serviceorientiert ist.

 

Darf ich zu deiner psychischen Krankheit nachfragen? Ich habe mit mehreren Interviewpartner*innen bereits darüber gesprochen, dass körperliche und psychische Beeinträchtigungen in unserer Gesellschaft nahezu unsichtbar sind. Durch unterschiedliche Barrieren werden der Zutritt bzw. die Teilnahme für viele erschwert. Welche Gedanken und Erfahrungen hast du dazu gemacht?

Ich nehme dazu gern Stellung, weil ich mich sozusagen bereits „geoutet“ habe. Ich habe tatsächlich diskriminierende Erlebnisse bei der Jobsuche gemacht, nachdem ich meine Persönlichkeitsstörung ganz offen angesprochen hatte. Nach dem Probearbeiten habe ich z. B. trotz mehrmaliger Nachfrage keine Reaktion des Unternehmens erhalten, weder eine Zu- noch eine Absage. Ich wurde immer wieder vertröstet. Meiner Erfahrung nach haben gerade psychische Beeinträchtigungen einen sehr schlechten Ruf. In einer Gesellschaft, die von Wettbewerb und Konkurrenzdenken lebt, können viele Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen ihre Stärken nicht wirklich zeigen. Ehrlich gesagt hatte ich vor meiner eigenen Erkrankung auch ein sehr einseitiges Bild von Borderline. Ich kannte nur die negativen Seiten und musste erst entdecken, dass auch diese Medaille zwei Seiten hat.

 

Was meinst du, wie Unternehmen von dieser zweiten Seite profitieren können? Welche Stärken verbindest du persönlich mit deiner Erkrankung?

Meine größte Stärke ist z. B. meine Schnelligkeit, mit der ich Informationen aufnehme und Zusammenhänge schließe. Das hat sich gerade durch meine Persönlichkeitsstörung entwickelt, weil ich immer versuche, alles richtig zu machen. Meine größte Angst ist, etwas zu übersehen. Ich schaue mir bestehende Probleme daher aus möglichst vielen Blickwinkeln an. Mein Ziel ist, die Beziehungen zwischen Ursache und Wirkung zu verstehen, um die besten Lösungsansätze finden zu können. Wenn es Unternehmen gelingt, die Potenziale von Menschen mit körperlichen oder psychischen Beeinträchtigungen zu heben, dann profitieren alle. Ich mag z. B. die Idee von Tandems und Jobsharing gern. Wenn zwei Mitarbeitende eine Position teilen und sich perfekt ergänzen, die Schwächen des anderen ausgleichen und die Stärken dadurch hervorheben, dann können insgesamt ganz neue Wege ermöglicht werden.  

 

Darüber habe ich schon öfter nachgedacht. In der Theorie gibt es viele Modelle wie Top- oder Jobsharing. Diese sind mir allerdings in Stellenausschreibungen mit einer einzigen Ausnahme noch nie begegnet. Hast du eine Idee, warum diese Modelle den Sprung von der Theorie in die Praxis nicht schaffen?

Ich vermute, das liegt daran, dass in den entscheidenden Positionen Menschen sitzen, die das Problem, keinen Job zu finden, selbst nicht haben. Gerade das motiviert mich wieder, mich zum Thema Diversity zu engagieren. Es ist so notwendig, dass verschiedene Perspektiven aufeinandertreffen und Monokulturen durchbrochen werden, dass sich Menschen mit unterschiedlichen Bedürfnissen und Herausforderungen gemeinsam an die Lösung eines Problems setzen. Dieses Aufeinanderprallen ist natürlich mit Reibungen verbunden, aber ich bin überzeugt, dass dadurch die besten Lösungen entstehen. Das Unternehmen edding hat z. B. gerade eine Doppelspitze im Vorstand etabliert. Ich hoffe, dass durch diese Vorbilder immer mehr Unternehmen, auch der Mittelstand, nachziehen und sich darüber Gedanken machen.

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Lisas Plugin für eine objektivere Personalauswahl

Neben der Karriereplattform arbeitet Lisa an einem Plugin für bestehende Bewerbermanagement-Tools. Das Plugin bezieht sich auf die Vorselektion. Viele Recruiter*innen verlassen sich darauf, dass digitale Auswahlsysteme rationale und diskriminierungsfreie Entscheidungen treffen. Das Problem ist aber, dass die vergangenen Entscheidungen, die durch Menschen getroffen wurden, die Basis für zukünftige Entscheidungen der digitalen Tools bilden. Die Systeme lernen die unterbewussten Vorurteile, persönlichen Neigungen und individuellen Erfahrungen. Dabei ist die Auswertung, wer es in der Vergangenheit in eine Jobposition geschafft hat, nur bedingt relevant dafür, wer es in Zukunft schaffen sollte. Lisas Idee: Ein Plugin, das keine Vergleiche auf Grundlage historischer Daten durchführt, sondern die Bewerbenden untereinander – auf Basis der Anforderungen – vergleicht und dabei normative Quoten in die Vorauswahl einbezieht.

Bildquelle: Interaction Institute for Social Change | Artist Angus Maguire