Chris (35) beschreibt sich selbst als stark introvertierte Person. Auf LinkedIn positioniert er sich klar dazu und klärt auf, was mit diesem Persönlichkeitsmerkmal verbunden ist. Ich wollte mit Chris besprechen, inwieweit Persönlichkeit ein wichtiges Kriterium für diverse Teams ist, welche Stärken introvertierte Personen im Job mitbringen und wie stark er die Berücksichtigung dieser Dimension im Rahmen von Diversity erlebt.

 

Chris, bei vielen deiner Posts auf LinkedIn fühle ich mich sehr gut abgeholt. Ich habe schon öfter sowohl im privaten Bereich als auch während meiner schulischen bzw. beruflichen Laufbahn das frustrierende Phänomen „Wer am lautesten schreit“ erlebt. Ich möchte in diesem Interview daher gerne über Introversion sprechen und introvertierten Menschen sowohl eine Bühne als auch Verständnis und Tipps mitgeben. Welche Rolle spielt dieses Persönlichkeitsmerkmal deiner Meinung nach?

Chris: Nichts definiert die Persönlichkeit mehr als die Ausprägung von Extra- und Introversion. Ich komme allerdings oft mit Menschen ins Gespräch, die von sich behaupten, eher extrovertiert zu sein. Wenn wir uns dann im Detail unterhalten, entdecken sie viele introvertierte Seiten an sich selbst. Das liegt meiner Meinung nach daran, dass sich viele introvertierte Personen extrovertierte Verhaltensweisen angeeignet haben, um dem gesellschaftlichen Ideal besser zu entsprechen. Das beginnt bereits in der Schule: Introvertierte sind im Schnitt die besseren Schüler*innen, bekommen aber schlechtere Noten, weil sie ruhiger sind und im Unterricht weniger aktiv mitarbeiten. Schriftlich sind die meisten Introvertierten deutlich besser. Viele verstellen sich so lange, dass sie sich dessen gar nicht mehr bewusst sind. Früher oder später wird dieses Verkennen der eigenen Persönlichkeit problematisch. Introvertierte leiden häufig darunter, dass sie sich nicht so zeigen können, wie sie sind.

 

Wie würdest du introvertierte Kolleg*innen im Job beschreiben? Woran erkenne ich introvertierte Personen?

Introvertierte reden meistens deutlich weniger, sie arbeiten gerne fokussiert und fühlen sich durch Ablenkungen schnell gestört. Introvertierte fallen am ehesten durch ihre Unsichtbarkeit auf, sie sind ruhig und unauffällig. Sie haben kein Interesse, im Mittelpunkt zu stehen. Wenn sie in den Mittelpunkt gedrängt werden, fühlen sie sich merklich unwohl. Sie sind analytisch stark und organisiert. Introvertierte erledigen ihre Arbeit meist ohne viele Rückfragen. An Team-Events und Feiern nehmen sie eher ungern teil, sie stehen tendenziell am Rand und unterhalten sich lieber mit einigen wenigen Personen als die Menge zu unterhalten.

 

Was bedeutet Diversity allgemein für dich? Welche Aufmerksamkeit findet Persönlichkeit deiner Meinung nach in Diversity-Initiativen?

Ich nehme Diversity als Begriff wahr, der an sich sehr divers verwendet wird und dadurch an Präzision verliert. Für mich bedeutet Diversity ganz einfach Vielfalt – wobei mir wichtig ist, dass die Sinnhaftigkeit hinterfragt wird. Meiner Meinung nach ist es nicht überall und immer auf Zwang notwendig, nach maximaler Vielfalt zu streben. Ich glaube, dass Diversity an den jeweiligen Kontext angepasst sein sollte. Und es ist wichtig, alle Dimensionen von Diversität mitzudenken. In meiner Wahrnehmung stehen Äußerlichkeiten wie Geschlecht, Ethnizität, etc. im Vordergrund, während die Persönlichkeit eines Menschen außer Acht gelassen wird. Diversität ich nicht erreicht, wenn alle unterschiedlich aussehen, aber gleich ticken. Wenn Menschen mit sehr ähnlichen Persönlichkeitsstrukturen zusammenarbeiten, geht das an der Idee von Diversität vorbei.

 

Darüber habe ich mir auch schon Gedanken gemacht. In einem meiner vergangenen Interviews habe ich die Idee von „Culture add“ anstelle von „Culture fit“ kennengelernt, das gefällt mir gut. Kannst du etwas darüber sagen, wie präsent introvertierte Menschen in Führungspositionen sind?

Schätzungen kommen zu dem Ergebnis, dass etwa 75 % aller Führungskräfte eine extrovertierte Persönlichkeitsstruktur haben. Nachdem es insgesamt genauso viele introvertierte wie extrovertierte Menschen gibt, ist das schon ein deutliches Missverhältnis. Extrovertierte Menschen sind präsenter, sie kommunizieren mehr und meist auch lauter. Im deutschsprachigen Raum wird dieses Verhalten höher angesehen. Im Businessbereich punkten Personen, die sehr „out-going“ und kommunikativ sind. Sie erhalten durchschnittlich auch mehr Beförderungen – und zwar völlig unabhängig von der Leistung. Viele Introvertierte leiden darunter, dass sie ihren Job zwar sehr gut erledigen, aber das nicht gut sichtbar für andere machen können.

 

Du hast selbst als Führungskraft gearbeitet. Wie ist es dir dabei gegangen? Welche Qualitäten zeigen introvertierte Führungskräfte tendenziell?

Ich hatte das Glück, dass meine beiden früheren Arbeitgeber meine Kompetenzen erkannt und mich bzw. meine Bedürfnisse verstanden haben. Das hat mir einen großen Spielraum gegeben. Meiner Meinung nach können Introvertierte exzellente Führungskräfte sein. Einige der größten Unternehmen werden von Introvertierten geleitet. Allerdings haben sie einen anderen Führungsstil: Introvertierte sind nicht dominant, sie handeln ruhig und überlegt, sie bewahren in schwierigen Situationen einen guten Überblick. Introvertierte sind von Natur aus tendenziell empathischer und können sich gut einfühlen. Das spielt Führungskräften in die Karten. Wichtig ist allerdings, dass sie sich nicht in ihren Plänen verlieren und aus dem Organisieren ins Umsetzen kommen. Das sind wiederum Stärken von extrovertierten Personen, weshalb ich es am besten finde, wenn Menschen mit unterschiedlichen Persönlichkeitsmerkmalen zusammenarbeiten. Die Schwächen der einen sind die Stärken der anderen.

 

Ein Thema, das ich gerne auch ansprechen möchte: Für mich persönlich ist Home Office ein „Geschenk“, ich arbeite sehr gerne großteils von zuhause aus. Gibt es die Tendenz, dass sich Introvertierte mehr Home-Office-Zeit wünschen? Hast du dir dazu Gedanken gemacht?

Ja, definitiv. Ich könnte dir dazu sogar sehr viel erzählen, weil ich meine Abschlussarbeit an der Universität zu diesem Thema geschrieben habe. Wesentlich ist, dass Introvertierte deutlich weniger soziale Kontakte für ihr Wohlbefinden brauchen. Ein Großraumbüro ist z. B. völlig ungeeignet für introvertierte Menschen, da können sie ihr Potenzial einfach nicht abrufen. Ich selbst arbeite seit mehr als 15 Jahren komplett aus dem Home Office und habe auch Teams aus dem Home Office geleitet. Wenn im Gegenzug eine extrovertierte Person ins Home Office „gezwungen“ wird, dann wird das sehr schlecht funktionieren. Die Person fühlt sich schnell einsam und die Produktivität leidet. Darum ist es aus Unternehmenssicht total sinnvoll, sich im Sinne der Mitarbeiter*innen, aber auch im Sinne des Unternehmens mit dem Thema auseinanderzusetzen. Die Mitarbeiter*innen so arbeiten zu lassen, wie es am besten zur Persönlichkeit passt, führt zu einer Win-Win-Situation.

 

Wie können wir Rahmenbedingungen für diese Win-Win-Situation schaffen? Hast du Tipps für introvertierte Personen, um besser auf sich aufmerksam zu machen?

Ich sehe ganz klar Nachholbedarf bei Unternehmen und Organisationen, die Persönlichkeit von Mitarbeitenden stärker in den Fokus zu nehmen. Genauso wichtig ist es mir allerdings, introvertierte Personen dahin zu bringen, dass sie ihre Wünsche kommunizieren. Introvertierte haben bestimmte Verhaltensmuster, die für andere schwer nachvollziehbar sind, das sollte reflektiert werden. Und das bedeutet nicht, dass Introvertierte ihre Persönlichkeit verändern sollen – das ist sowieso nicht möglich, da die Strukturen angeboren sind. Aber Introvertierte können lernen, ihre Bedürfnisse zu artikulieren – sie dürfen nicht erwarten, dass andere sie von allein verstehen. Wer seine Wünsche nicht kommuniziert, hofft wie in der Lotterie auf den Zufall.

 

Du arbeitest hauptberuflich als Coach für Introvertierte. Was hat dich dazu bewogen, dich in dieser speziellen Nische selbständig zu machen? Welche Unterstützung bietest du konkret an?

Mir fällt auf, dass immer mehr Unternehmen z. B. Dienstleistungen in Zusammenhang mit Introversion denken – es gibt u. a. Seminarangebote speziell für Introvertierte – und dass Magazine wie „Das neue Narrativ“ das Thema aufgreifen. Das führt dazu, dass mehr Menschen sich mit diesem Persönlichkeitsmerkmal auseinandersetzen und die Bewertung eine positivere wird. Ich will diese Entwicklung unterstützen und biete als Coach meine Begleitung eben dieser Reflexion der eigenen Verhaltensmuster und Bedürfnisse an. Mein Ziel ist, dass Introvertierte ihre Persönlichkeit anerkennen, zu ihren Bedürfnissen stehen und diese auch kommunizieren lernen.

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War euch das bewusst?

Chris hat im Interview seine Erfahrungen im deutschsprachigen Raum angesprochen. Auf die Frage, ob es regionale Unterschiede in der Bewertung von Intro- vs. Extraversion gibt, hat er geantwortet:

„Ja, definitiv. In Ländern wie Norwegen, Finnland oder Japan werden introvertierte Personen eher geschätzt.“

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Neue Narrative: Warum Introvertierte mehr Anerkennung verdienen

Hier einer der Artikel des Magazins „Neue Narrative“ über Introversion.
Warum Introvertierte mehr Anerkennung verdienen | Neue Narrative