Maciej (44) ist während seines Studiums tief in die Materie von Gender- und Diversitätsmanagement eingetaucht, hat anschließend auf der Uni, als Journalist und in diversen anderen Jobs gearbeitet. Seit vier Jahren ist Maciej wieder im universitären Umfeld tätig, er hat an der WU Wien und JKU Linz gelehrt, ist aktuell SDG5-Projektkoordinator und unterrichtet an der TU Wien das Fach Gender- und Diversitätskompetenz. Maciej auf LinkedIn zu folgen, ist auf jeden Fall eine gute Idee.
Maciej, ich freu mich sehr, dass du dir Zeit für ein Interview genommen hast. Du beschäftigst dich beruflich intensiv mit Diversity. Was hat deine Leidenschaft für dieses Thema entfacht?
Maciej: Das Thema Diversity beschäftigt und begleitet mich schon sehr lange. 2003 war ich Student an der WU Wien und im Zuge des zweiten Studienabschnitts auf der Suche nach einem vertiefenden Fach. Ich habe mich damals für das neu entstehende Kompetenzfeld Gender- und Diversitätsmanagement entschieden. Obwohl ich mit feministischen Strömungen vertraut war, hatte ich das Gefühl, als hätte mir jemand eine Brille aufgesetzt, damit ich mehr sehen kann. Es war für mich sehr spannend, diese zusätzlichen Ebenen der Gesellschaft wahrzunehmen. Mir ist bewusst geworden, dass Diskriminierung strukturelle Ursachen hat – sie ist viel mehr im System verankert und sozial konstruiert als eine Frage von individuellen Geschehnissen.
Das bestätigt sich auch in meinen Interviews. Ich habe den Eindruck, dass viele Menschen sich aufgrund selbst erlebter Diskriminierung besonders stark für Diversity einsetzen und eine Veränderung erzielen wollen. Hast du dazu Gedanken?
Ich bin mit zweieinhalb Jahren von Polen nach Österreich gekommen und am Stadtrand von Innsbruck aufgewachsen. In unserem Wohnblock haben viele Familien mit unterschiedlichen ethnischen Hintergründen gelebt. Ich denke, dass das ein prägender Aspekt für meine Sozialisierung war. Ich habe diese Zeit als sehr bereichernd in Erinnerung und sehe Diversität in der Gesamtheit ihrer Dimensionen als positiven Wert. Ich kann mir allerdings gut vorstellen, dass die Triebfeder für die Auseinandersetzung mit Diversity oft aus negativen Erlebnissen entsteht. Personen, die selbst Erfahrungen mit Diskriminierung gemacht haben, bringen selbst ein stärkeres Sensorium für andere Gruppen und Diversitätsdimensionen mit. Was ich dazu ergänzen möchte, weil es mir in meiner Arbeit sehr wichtig ist: Wir müssen mit dem Thema Diversity auch Menschen erreichen, die diese Erfahrungen nicht gemacht haben. Personen, die aus ihrer persönlichen Perspektive überzeugt sind, dass jeder Mensch seine Ziele erreichen kann, wenn diese nur motiviert genug verfolgt werden. Ich finde diese individuelle Sicht zwar gut, allerdings dürfen die angesprochenen strukturellen Ungerechtigkeiten nicht außer Acht gelassen werden.
Strukturelle Diskriminierung aufzeigen und Menschen erreichen, die damit im eigenen Leben wenig oder keine Berührungspunkte hatten, sind zentrale Themen. Kannst du mir dazu noch mehr erzählen?
Frauen werden deutlicher diskriminiert als Männer und erleben intersektional gesehen auch stärkere Mehrfachdiskriminierungen aufgrund ihrer Hautfarbe, einer Behinderung, etc. Ein Film, der die Entstehung von struktureller Diskriminierung sehr gut aufgreift, ist der 2019 erschienene Film „Die Dohnal“, ein Porträt der Feministin und Ministerin Johanna Dohnal. Meistens sind es Menschen mit Privilegien, die Positionen mit Handlungsspielraum und Entscheidungskompetenz bekleiden. Meiner Meinung nach liegt hier große Verantwortung, etwas dazu beizutragen, dass es weniger Ungerechtigkeit in unserer Gesellschaft gibt. Ich spreche das Thema Diversity daher gern im Austausch mit Personen an, die ich als sehr privilegiert erachte. Auch Unternehmen und Organisationen tragen diese Verantwortung mit.
Du hast Johanna Dohnal angesprochen, die in den 70er-Jahren sehr aktiv war. Was hat sich seither deiner Meinung nach bewegt?
Johanna Dohnal hat sehr vieles für die „Gleicherstellung“ von Geschlechtern erreicht. Wenn wir das allerdings mit heute vergleichen, müssen wir feststellen, dass wir uns bei Gender Inequalities noch immer auf dem gleichen Niveau befinden. Gewalt gegen Frauen, Femizide, Altersarmut von Frauen und der Gender Pay Gap sind riesige Themen. Stichwort Frauen in Führungspositionen: Da gibt es meiner Meinung nach eine leichte Bewegung auf der elitären Ebene von Aufsichtsräten, was symbolisch wichtig ist, aber für das Gros der Frauen bräuchten wir andere Hebel. Ein zentraler Aspekt ist die Aufteilung von Sorgearbeit. Wir haben uns seitens TU Wien in den vergangenen zwei Jahren im Rahmen eines SDG-Projekts intensiv mit diesem Aspekt beschäftigt. Im Austausch mit Expert*innen aus vielen anderen Organisationen sind wir zu dem Schluss gekommen, dass einer der größten Hebel die Bewertung von Arbeit ist. Nach wie vor gibt es Bereiche und Branchen, wo überproportional viele Frauen arbeiten und die aufgrund der Rahmenbedingungen und geringen Bezahlung einen schlechten Ruf haben. Darüber hinaus wird die unbezahlte Care-Arbeit zum Großteil Frauen zugeschrieben. Was es für Geschlechtergleichheit unbedingt braucht, ist eine neue Bewertung von Arbeit. Dafür müssten sich Regierung, Unternehmen, Sozialpartner und Institutionen gemeinsam an einen Tisch setzen und für bisher Privilegierte auch unbeliebte Entscheidungen treffen.
Du hast dich als SDG5-Ambassador intensiv mit dem „Sustainable Development Goal 5“ beschäftigt, das auf die Geschlechtergerechtigkeit und Selbstbestimmung für alle Frauen und Mädchen abzielt. Wo siehst du Möglichkeiten, hier wirklich eine massive Verbesserung zu erzielen?
Neben den angesprochenen Rahmenbedingungen, die seitens der Regierung verändert werden müssten – z. B. Karenzgesetz, Arbeitszeitverkürzung, Equal Pay –, ist Bewusstseinsbildung ein zentraler Bereich. Wir wissen, wie stark Stereotype in unserer Gesellschaft verankert sind und wirken. Es braucht viel Zeit, vermutlich mehrere Jahrzehnte, um diese Muster aufzubrechen. Wie wir festgestellt haben, müsste bereits die Elementarpädagogik als erste Bildungseinrichtung gesehen und hier mit Bewusstseinsbildung begonnen werden. Geschlechterrollen fangen mit Eintritt in die Volksschule an, sich zu verfestigen. Medien und Werbung fließen in unsere Sozialisation mit ein. Wir haben gesehen, dass es allein im Hinblick auf Gender viel zu tun gibt, da werden andere Diversitätsdimensionen oder überhaupt Intersektionalität noch gar nicht mitgedacht.
Es gibt an sehr vielen Ecken großen Handlungsbedarf. Als jemand, der sich intensiv mit dem Thema beschäftigt: Darf ich dich fragen, wie du Österreich im Hinblick auf DE&I wahrnimmst? Wo stehen wir?
Ich möchte mit etwas Positivem starten: Ich beobachte seit zwei, drei Jahren, dass sich immer mehr Unternehmen und Institutionen dem Themenbereich annehmen. Das Wissen über Begriffe wie Diversity, Inclusion, LBGTIQ ist in meiner Wahrnehmung so groß wie noch nie, die Begriffe sind sehr präsent. Das bedeutet allerdings nicht zwangsläufig, dass alle, die sich nach innen und/oder außen damit schmücken, auch wirklich substanziell etwas verändern. Diversity darf nicht zum Mainstream-Thema werden, das im Recruiting hoch angepriesen und nicht auf das gesamte Unternehmen übertragen wird. Diversity muss durch alle Ebenen des Unternehmens gehen. Dass die Communities immer stärker werden, empfinde ich ebenfalls als sehr positiv. Dadurch wird Pink-Washing immer schwieriger, Unternehmen und Organisationen müssen sich ernsthaft mit Diversity auseinandersetzen.
Gibt es für dich kritische Faktoren in dieser Auseinandersetzung mit Diversity? Worauf müssen Institutionen und Unternehmen deiner Meinung nach achten?
Was ich kritisch finde, ist eine Betrachtung, die die Dimensionen von Diversity nebeneinanderstellt. Wenn ich sage, das ist die Gruppe von Migrant*innen, das sind die Frauen, das sind die Menschen mit Behinderung, usw. Eine verschränkte Sichtweise, die der Intersektionalität am ehesten Rechnung trägt, bringt für den betrieblichen Alltag natürlich eine sehr hohe Komplexität mit. Aber ich finde es enorm wichtig, nach und nach immer mehr auf diese Verschränkungen zu achten. Der zweite wichtige Punkt ist nach wie vor Gender Equality. Der Aspekt von Gender muss in allen Diversitätsdimensionen mitgedacht werden. Eine behinderte Frau erlebt z. B. definitiv eine andere Realität als ein behinderter Mann. Als dritten kritischen Faktor sehe ich die Abgrenzung zum Thema Nachhaltigkeit. Wenn von Nachhaltigkeit gesprochen wird, wird in den seltensten Fällen die soziale Nachhaltigkeit mitgemeint. Sind die sozialen Marker zu ungleich, können wir allerdings auch die ökologische und die technologische Nachhaltigkeit nicht vorantreiben. Dann werden wir die Agenda 2030 schlichtweg nicht erreichen.
Intersektionalität
Intersektionalität ist ein Begriff, der das Zusammenwirken mehrerer Unterdrückungsmechanismen beschreibt. Er wird sowohl in der wissenschaftlichen Forschung als auch in pädagogischen, bildungspolitischen und aktivistischen Zusammenhängen benutzt.
Diese Definition und viele weitere Infos findet ihr hier:
kurz erklärt: INTERSEKTIONALITÄT – Vielfalt Mediathek (vielfalt-mediathek.de)
Stereotype in der Werbung
Maciej hat seine Diplomarbeit zum Thema Gender in der politischen Wahlwerbung geschrieben. Habt ihr die Plakate unserer Parteien schon einmal mit der Diversity-Brille betrachtet?
Außerdem machte mich Maciej darauf aufmerksam, dass u. a. in der Fast-Fashion-Industrie in den vergangenen Jahren zusätzlich zu den „Farbcodes“ (rosa für Mädchen, blau für Burschen) mit geschlechterspezifischen Slogans gearbeitet wird. Für Mädchen gibt es Kleider mit der Aufschrift „I’m a princess“, Burschen bekommen Shirts mit der Message „Be strong“. Dadurch verfestigen sich Stereotype zusätzlich.
Die Dohnal
„Johanna Dohnal – Visionary of Feminsm“ ist eine Hommage an Johanna Dohnal, eine bedeutende Frau der österreichischen Geschichte und eine der ersten Feministinnen in einer europäischen Regierung. Der Film bietet ein Vorbild für die heutige und die kommenden Generationen. Wir können uns in ihr wiedererkennen, in ihren Erfolgen wie auch in ihren Misserfolgen.