Anemone (30) arbeitet ehrenamtlich bei mehreren Organisationen wie z. B. Soroptimist International mit, ist in einer Führungsrolle bei BCG Platinion und hat im Januar 2021 ihre eigene Initiative „Kulturell Inkorrekt“ gegründet, um einen Beitrag zur gesellschaftlichen Entwicklung zu leisten und das Bewusstsein für ihr wichtige Themen zu fördern. Als Deutsche mit persischen Wurzeln hat sie Diskriminierung erlebt und will ihre Erfahrungen jetzt dazu nutzen, um andere Menschen mit ähnlichen Barrieren zu unterstützen. Ich erlebe Anemone als sehr begeisterungsfähige und engagierte Person, die ihre Projekte mit viel Herzblut verfolgt und im Interview ihre persönliche Perspektive mit mir geteilt hat. Wir haben uns u. a. über Bildungsdiskriminierung und ungleiche Chancen am Arbeitsmarkt unterhalten.

 

Anemone, wir kennen uns über LinkedIn, weil ich „Kulturell Inkorrekt“ mit deinem Newsletter „Culture Bites“ entdeckt habe. Ich freu mich, dass du dir Zeit für ein Interview nimmst. Kannst du beschreiben, warum dir dieses Thema wichtig ist? Warum engagierst du dich für Interkulturalität und Diversität?

Anemone: Ich habe 2021 meine Initiative „Kulturell Inkorrekt“ gegründet und mich anfangs stark mit Rassismus und Diskriminierung auseinandergesetzt, weil ich selbst als Deutsche mit persischer Abstammung damit doch einige heftige Berührungspunkte hatte. Dabei habe ich gemerkt, dass das Thema Interkulturalität bzw. Kultur im Diskurs rund um DE&I derzeit eine zu kleine Rolle spielt – und das, obwohl der Wissenstransfer über Kulturen, Mythen und Vorurteile uns das Zusammenleben so viel einfacher machen würde. Mein Fokus liegt daher aktuell auf Interkulturalität, wobei es mir sehr wichtig ist, die anderen Dimensionen mitzudenken und meine Initiative intersektional zu denken.

 

Magst du mir erzählen, welche diskriminierenden Erfahrungen du in Deutschland gemacht hast?

Ja, gern. Ich bin in Deutschland geboren und verbrachte hier eine ganz normale Kindheit. Als wir dann in eine ländliche Gegend in Bayern gezogen sind und ich auf das Gymnasium gewechselt habe, kam ich zum ersten Mal mit Rassismus und Diskriminierung in Berührung. Als ich zum ersten Mal mit einem rassistischen Kommentar konfrontiert wurde, war ich sehr irritiert und habe den Zusammenhang gar nicht verstanden. Es gab einerseits Kommentare von wildfremden Menschen, die mir nicht zugetraut haben, dass ich aufs Gymnasium gehe, und andererseits machten einige Lehrkräfte abfällige Bemerkungen über meine Kultur. Auch während meines Studiums setzten sich diese Erfahrungen fort. Ich habe schnell gemerkt, dass noch eine weitere Dimension meinen Werdegang beeinflusste. Als Studentin der Politikwissenschaften mit einer Vorliebe für Wirtschaftswissenschaften war ich umgeben von Studierenden mit dem vielbesagten „Vitamin B“. Wenn es z. B. um Praktika ging, dann wollten natürlich alle in die BIG-4-Unternehmen bzw. die namhaftesten Unternehmensberatungen der Welt – mit Beziehungen klappte das natürlich leichter. Mir wurde bewusst, dass ich keine Familie mit guten Verbindungen und kein großes Netzwerk habe und daher mehr kämpfen muss, um meine Ziele zu erreichen. Ich muss mich stärker engagieren, um mir Gehör zu verschaffen.

 

Jetzt bist du sehr erfolgreich in der Geschäftswelt unterwegs. Wie ist dir das geglückt? Welche Erkenntnisse ziehst du daraus?

Ich habe mich auch ohne „Vitamin B“ bei den Unternehmen beworben, die für mich am attraktivsten waren. Ich habe 180 % gegeben und mich extra angestrengt. Mein erster Job war dann tatsächlich bei Deloitte, und ich konnte es kaum glauben, dieses Ziel erreicht zu haben. Ich war sehr stolz und gleichzeitig kam der Wunsch auf, dieses große Geschenk und damit verbundene Privileg zu nutzen, um andere Menschen in ähnlichen Situationen zu empowern. Ich will als Role Model andere inspirieren. Ich will zeigen: Wenn der erste Plan nicht funktioniert, dann gibt es einen zweiten, dritten, vierten Plan. Aufgeben sollte keine Option sein. Menschen aus sozial schwachen Familien oder andere diskriminierte Gruppen haben einfach nicht die gleichen Möglichkeiten bzw. müssen härter für diese kämpfen. Mir ist es wichtig, dafür ein Bewusstsein zu schaffen.

 

Darf ich dazu nochmal nachhaken: Was sind deiner Meinung nach die größten Barrieren für Menschen aus sozial schwachen Bevölkerungsgruppen?

Ich finde, dass das ein strukturelles Problem in Deutschland ist. Das beginnt schon bei ungleichen Bildungschancen und setzt sich natürlich bei ungleichen Chancen am Arbeitsmarkt fort. Eine Person aus einer sozial schwachen Familie ohne Akademikerhintergrund hat nicht die gleichen Chancen auf einen Arbeitsplatz wie ein Harvard-Absolvent oder jemand, der Praktika in namhaften Unternehmen absolvieren durfte. Mir fällt dazu gerade eine sehr augenöffnende Situation zum Thema Bildungsdiskriminierung ein. Ich engagiere mich in einem Verein, der sich für Frauenrechte einsetzt und Frauenhäuser unterstützt. Bei einer virtuellen Live-Stream-Veranstaltung, bei der ich Speakerin war, haben wir darüber diskutiert, wie Schüler*innen ohne Zugang zu Internet und ohne IPads durch die Lockdowns in einen enormen Bildungsrückstand geraten sind. Die Menschen hinter unserem Bildungssystem haben absolut versäumt, Infrastrukturen für sozial schwache Familien aufzubauen, obwohl der Unterricht zum Großteil auf digitale Medien verlagert wurde. Dazu kommt noch, dass Eltern, die selbst keine gute Schulbildung haben, natürlich ihre Kinder schlecht beim Lernen unterstützen konnten.

 

Du sprichst das Schulsystem an, darüber denke ich regelmäßig nach. Mich beschäftigt, welche Rollenerwartungen und Berufsbilder von Lehrkräften mitgegeben werden. Dabei wäre die Schule meiner Meinung nach eine wichtige Institution, um Ungleichheiten und unbewusste Denkmuster aus dem Elternhaus auszugleichen. Meiner Meinung nach sollte die Schule ein Ort sein, wo alle Kinder gleich behandelt, gleich gefördert und gleich empowert werden. Wie siehst du das?

Ich sehe das genauso. Allerdings habe ich nicht die Hoffnung, dass sich da in den kommenden Jahren etwas substanziell verändert. Ich bin überzeugt: Wenn wir es in den kommenden Jahren immer noch nicht schaffen, unsere Kinder über die Schule zu sensibilisieren, dann müssen wir das über Social Media machen. Wir müssen das über junge, moderne Anlaufstellen wie TikTok, Snapchat oder Instagram machen und uns gute Formate überlegen, die gern von der Zielgruppe konsumiert werden. Social Media sind für mich eine gute Methode, um Wissen auf breiter Basis zu vermitteln – nicht nur an junge Generationen, sondern an viele Zielgruppen. Ich würde mir wünschen, dass noch mehr Menschen diese Medien nutzen, um ihre wichtigen Themen zu kommunizieren. Ich versuche, neben meinem Podcast „Kulturell Inkorrekt“ und meinem LinkedIn-Newsletter auch meinen Instagram-Account wieder zu beleben und hier ansprechende Inhalte zu mir wichtigen Themen zu platzieren.

 

Du hast anfangs erwähnt, dass du einen besonderen Fokus auf Intersektionalität – also das Zusammenwirken mehrerer Unterdrückungsmechanismen – legst. Magst du darauf noch näher eingehen?

Eine Frau aus einer sozial schwachen Gruppe oder ein*e Ausländer*in hat es nochmal ungleich schwerer. Darum ist es mir wichtig, Diskriminierung immer intersektional zu denken. Es bringt meiner Meinung nach wenig, wenn wir uns für Women Empowerment einsetzen, dabei aber nur an ausschließlich schwarze oder ausschließlich weiße Frauen denken. Ich habe den Eindruck, dass Diversity-Initiativen sich oft in der eigenen Bubble verfangen. Mir ist wichtig, dass gesehen wird, dass eine Frau z. B. nicht nur aufgrund ihres Geschlechts, sondern auch aufgrund ihrer Bildung, ihres Familienstatus, ihrer Hautfarbe und/oder ihrer Religion benachteiligt sein kann. Das würde ich bei allen Diversity-Maßnahmen immer mitdenken und versuchen, diese Maßnahmen so aufzusetzen, dass sie für alle Menschen passend sind. Insgesamt würde ich darauf achten, alle Initiativen gut miteinander zu verzahnen, damit sie ein großes Ganzes ergeben und miteinander wirken können. Ich denke, das würde die Akzeptanz und auch die Strahlkraft von Diversity-Maßnahmen deutlich vergrößern.

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Hier könnt ihr mehr über Anemones Initiativen erfahren. Folgen absolut empfohlen!

„Culture Bite“ Newsletter auf LinkedIn:
https://www.linkedin.com/pulse/culture-bite-1-anemone-ahmad-nejad-paleko/ 

Website „Kulturell Inkorrekt“
www.kulturellinkorrekt.com 

Podcast „Kulturell Inkorrekt“
https://link.chtbl.com/8JOg5UCB

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Intersektionalität: Für Diversity aus der eigenen Bubble aussteigen

Ich habe mit Anemone über Intersektionalität gesprochen. Sie ist überzeugt, dass wir das Thema Diversity insgesamt viel besser pushen könnten, wenn nicht jede unterrepräsentierte Gruppe ihr eigenes Süppchen kocht. Wenn wir unsere Initiativen besser verzahnen, können wir das Thema insgesamt auf eine größere Bühne holen! Gemeinsam haben wir eine stärkere Stimme. Habt ihr dazu Ideen?