Ümit (49) strahlt eine großartige Energie aus und es ist extrem schön, ihren Geschichten zu folgen und ihre Leidenschaft zu spüren. Sie setzt seit zehn Jahren Diversity-Projekte im Kunst- und Kulturbereich um und engagiert sich für Chancengleichheit. Mit ihrem Unternehmen „kultur & gut“ bietet Ümit ein rundes Portfolio an diversitätssensibler Beratung und Begleitung für Organisationen. Im Interview erfahrt ihr, welchen Mehrwert Museen für die gesellschaftliche Entwicklung stiften können und welchen Bildungsauftrag Ümit im Kunst- und Kulturbereich sieht. Außerdem hat sie mir von einigen ihrer kreativen Herzensprojekte erzählt.
Ümit, ich freue mich sehr auf unser Gespräch heute. Du wurdest für deine Diversity-Projekte erst vor wenigen Wochen mit dem Look! Business Award in der Kategorie Diversity ausgezeichnet. Ich gratuliere dir ganz herzlich. Erzählst du mir, was deine Leidenschaft für das Thema geweckt hat?
Ümit: Diversität bzw. das Gefühl des Andersseins begleiten mich eigentlich schon mein gesamtes Leben. Ich werde immer wieder als Islamexpertin, als Türkeiexpertin oder als Expertin für das gesamte osmanische Reich gesehen. Dabei bedeutet meine türkische Migrationsbiografie natürlich nicht, dass ich zu diesen Themen einen Wissensvorsprung habe. Wenn ich z. B. gefragt werde, woher ich komme, und ich mit Wien antworte, dann wird immer noch nachgefragt, woher eigentlich wirklich. Manchmal kann ich diese Fragen sehr humorvoll nehmen, manchmal bin ich aber genervt. Ich bin hier geboren, ich lebe hier, ich bezeichne mich selbst als Wienerin mit türkischen Wurzeln. Weil mich das Thema Kultur permanent begleitet hat, habe ich beschlossen, mich auch beruflich damit auseinanderzusetzen. Ich habe in Salzburg das Studium für Migrationsmanagement absolviert und mich mit meinem Unternehmen „kultur & gut“ selbständig gemacht. Mein Angebot ist breit gefächert, mein Fokus liegt aber auf dem Kunst- und Kulturbereich.
Das klingt sehr spannend. Kannst du beschreiben, welche Schwerpunkte du in deiner Arbeit setzt? Welche Möglichkeiten siehst du im Kunst- und Kulturbereich, um sich diverser aufzustellen?
Ich berate viele Museen in Österreich und mittlerweile auch Deutschland. Meiner Meinung nach sollte der Kunst- und Kulturbereich eine viel stärkere Vorreiterrolle einnehmen und die demographische Zusammensetzung so gut als möglich abbilden. In meiner Arbeit unterstütze ich einerseits den Prozess, um die internen, personellen Strukturen diverser zu gestalten. Migrationsbiografien findet man in Museen z. B. meistens nur beim Reinigungs- und Aufsichtspersonal. Bei meinem Diversitätscheck analysiere ich unter anderem, auf welchen Kanälen aktuell nach neuen Mitarbeiter*innen gesucht wird und berate dahingehend, welche Communities und anderen Kanäle weitere gute Quellen sein könnten, Stichwort Ethnomarketing. Der zweite Bereich meines Angebots befasst sich damit, mehr Besucher*innen anzuziehen. Gerade einmal 5 % der Bevölkerung gehen ins Museum – und wenig überraschend sind das sehr kultur- und bildungsaffine Menschen. 95 % Nicht-Besucher*innen bieten ein sehr schönes Potenzial.
Das stimmt allerdings. In einem meiner vergangenen Interviews ging es um Bildungsdiskriminierung. Wie stehst du zu diesem Thema? Haben Museen eine Möglichkeit, hier entgegenzuwirken?
Museen haben definitiv einen Bildungsauftrag – und davon sollen ganz klar nicht nur „die Schönen und Reichen“ profitieren, sondern die gesamte Gesellschaft. Darüber hinaus haben Museen entsprechende Räumlichkeiten, um Menschen zusammenzubringen. Es ist mir wirklich ein großes Anliegen, mit meinen Projekten nicht nur die „üblichen Verdächtigen“ anzusprechen, sondern einen Austausch von Menschen zu ermöglichen, die sich sonst nicht begegnen würden. Dabei liegt mein Fokus nicht auf Personen mit Migrationsbiografie – ich will Angebote für Menschen aus unterschiedlichen Gesellschaftsschichten setzen. Allgemein sehe ich kein Migrationsproblem, sondern ein sozialökonomisches Problem in unserer Gesellschaft. Ich setze mich für Menschen in prekären Lebenssituationen und für Chancengleichheit ein.
Welche Erfahrungen machst du in der Zusammenarbeit mit Museen? Erzählst du mir, welche Projekte besonders gut angenommen werden?
In meiner Zusammenarbeit mit Museen erlebe ich sehr oft eine Begeisterung für das Thema Diversity, einige haben bereits DEI-Expert*innen an Bord – was manchmal fehlt, ist ein kreativer Leitfaden für die Umsetzung. Seit 1. September begleite ich z. B. das Wien Museum, das gerade umgebaut und im Dezember 2023 wiedereröffnet wird, im Bereich Communities und Outreach. Als Beispiel für eine mögliche Initiative fällt mir gerade eine Workshopreihe ein, die ich für arbeitssuchende Frauen umgesetzt habe. Wir haben uns mit Selbstpräsentation und Stimme beschäftigt und sind dazu in die Albertina gegangen. Nach einer klassischen Führung durch das Haus hat sich jede Teilnehmerin ein Objekt ausgesucht, das sie besonders angesprochen hat, und dazu eine eigene Geschichte entwickelt. Eine Woche später schlüpften die Teilnehmerinnen in die Rolle der Kunstvermittlerin und haben ihre Geschichten vorgetragen. Das Feedback danach hat mich sehr berührt – eine Teilnehmerin meinte: ‚Ich habe jetzt keine Angst mehr vor Bewerbungssituationen. Hey, ich habe in der Albertina eine Führung gemacht‘. Und genau darum geht es mir. Ich will keine Prestigeprojekte umsetzen, sondern einen Mehrwert für die Teilnehmer*innen generieren.
Das kann ich mir wirklich gut vorstellen. Du hast in Bezug auf Diversität einerseits die Belegschaft in Museen und andererseits die Attraktion von zusätzlichen Besuchergruppen angesprochen. Welche Rolle gibst du den gezeigten Kunstwerken? Wie divers sind Museen bei der Auswahl ihrer Ausstellungen?
Der Großteil aller ausgestellten Kunstwerke kommt ganz klar aus Europa bzw. der westlichen Welt. Ich erlebe allerdings, dass Museen durchaus sehr kritisch mit sich selbst umgehen und aufgeschlossen für neue Konzepte und Ausstellungen sind. Das beginnt z. B. schon damit, dass die Beschreibungen von Objekten in einfacher Sprache und nicht nur auf Deutsch und Englisch, sondern in einigen Sprachen mehr abgebildet werden. Viele Museen streben ein diverseres Spektrum an Künstler*innen an und sind hier sehr engagiert. Das MUMOK hat z. B Objekte einer türkischstämmigen Künstlerin angeschafft. Diese Offenheit und Beweglichkeit im Kunst- und Kulturbereich motivieren mich sehr.
Du hast gemeint, dass Museen einen Bildungsauftrag haben. Darauf möchte ich noch einmal zurückkommen. Siehst du im Kunst- und Kulturbereich generell eine Verantwortung, auf die Gesellschaft einzuwirken und wichtige Themen aufzugreifen?
Ja, auf jeden Fall. Ich finde es durchaus wichtig, dass Museen ihren gesellschaftspolitischen Auftrag sehen. Ich kann mir vorstellen, dass Zeiten kommen werden, in denen wir unsere Demokratie verteidigen müssen. Gerade da ist es besonders wichtig, Räume für Begegnung zu schaffen. Im gegenseitigen Austausch können wir Gemeinsamkeiten finden, die uns über Kultur, Nationalität und andere Dimensionen hinaus verbinden. Eine schöne Möglichkeit sehe ich auch darin, dass Sponsor*innen gefunden werden, die Menschen in prekären Lebenssituationen den Besuch von Museen und die Teilnahme an Bildungsangeboten finanzieren.
Gibt es ein Museum, das du mir besonders ans Herz legen würdest?
Gern das Volkskundemuseum in Wien. Da merke ich ein sehr starkes Interesse am Thema Diversität. Der Direktor und die stellvertretende Direktorin des Museums haben wirklich Feuer gefangen an der Auseinandersetzung mit Vielfalt. Sie möchten unterschiedlichsten Communities eine Bühne geben und Ausstellungen ermöglichen. Beim Projekt „From Evin with Love“ ging es z. B. um kleine Puppen und Briefe, die die Insassinnen eines Frauengefängnisses in Teheran gefertigt und über wohlwollende Wärterinnen an ihre Familien geschmuggelt haben, um diesen ein Lebenszeichen zu übermitteln. Diese Objekte wurden von einer in Den Haag lebenden Soziologin und Aktivistin mit iranischen Wurzeln gesammelt. Gemeinsam mit Amnesty International entstand daraus diese Ausstellung, die wir auch nach Wien geholt haben. Wir haben Besucherzahlenrekorde gebrochen, weil wir ein wichtiges Thema aufgegriffen und die Menschen vor allem auch aus der iranischen Community berührt haben.
Hier erfahrt ihr mehr über die Arbeit und das Angebot von Ümit:
Eine Aussage von Ümit, die ich einfach mit euch teilen muss:
„Wertschätzung fängt bei mir selbst an, und nicht bei meinem Gegenüber.“
From Evin with Love: eine Ausstellung im Volkskundemuseum Wien
Zum Nachdenken... Kooperation statt Wettbewerb zwischen Museen
„Viele Museen sitzen nicht nur nach wie vor in ihrem Elfenbeinturm und bewegen sich kaum raus aus dem Haus, um neue Gäste zu gewinnen – sie kooperieren auch untereinander noch viel zu wenig, weil sie zu sehr die Konkurrenz in den Vordergrund stellen. Dabei könnten sie gut laufende Formate abwechselnd in unterschiedlichen Häusern anbieten. Das wäre zum einen kostengünstiger für die Museen und zum anderen abwechslungsreicher für die Besucher*innen.“
Eines von Ümits Lieblingsprojekten: ein interkultureller Frauenchor
Ümit hat in Wien einen interkulturellen Frauenchor initiiert: „Dieser Chor ist im Rahmen eines EU-Projekts entstanden, das ich für das MUMOK umgesetzt habe. Das Ziel war, unterschiedliche Frauen aus unterschiedlichen Gesellschaftsschichten und Kulturen – von der Arbeitssuchenden bis zur Bankdirektorin – zusammenzubringen. Für mich standen das ‚Erheben der Stimme‘ und das Sichtbarmachen im Vordergrund. Wir studieren Lieder in den Sprachen aller Teilnehmerinnen ein, das schafft einerseits ein großartiges Verständnis füreinander und sorgt gleichzeitig für ein schönes Empowerment der einzelnen Frauen. Wenn wir in Wien am Museumsplatz proben, dann spüren wir, dass unser Singen auch die Passant*innen bewegt und zum Nachdenken anregt.“
https://www.mumok.at/de/blog/frauen-erheben-die-stimme-frauenchor-im-mumok
BELVEDERE: Tea Talks mit Ukrainer*innen
Zu Begegnung und Austausch zwischen Ukrainer*innen und Wiener*innen bei einer Tasse Tee lädt das Belvedere 21 ein: Ab Samstag, 21. Mai 2022, finden Tea Talks unter dem Motto Sharing the Stage bei freiem Eintritt statt (Foto). Durch das Programm führen Zoryana Pochynayko (Theaterregisseurin aus Lwiw/Ukraine), Ümit Mares-Altinok (Kulturdolmetscherin, Kultur & Gut), Eva Mühlbacher und Katja Stecher (Kunstvermittlung, Belvedere).
BELVEDERE: Tea Talks mit Ukrainer*innen | Belvedere, 18.05.2022 (ots.at)