Susanne (40) ist Expertin auf dem Themengebiet von Diversity, Equity und Inclusion (DEI). Nachdem sie sich bereits während ihres Studiums und auf wissenschaftlicher Ebene damit auseinandergesetzt hat, arbeitet sie seit mehreren Jahren in einer beratenden Rolle. Sie führt Trainings und Workshops durch, begleitet bei der Strategieplanung und später bei der Entwicklung konkreter Maßnahmen. Susanne hat einerseits sehr persönliche Erfahrungen als queere Frau mit einer überwundenen körperlichen Beeinträchtigung mit mir geteilt und andererseits von ihrer Arbeit mit Unternehmen berichtet. Ich bin immer sehr beeindruckt, wenn Menschen sich zeigen, um anderen in ähnlichen Lebenssituationen Mut zu machen.

 

Susanne, ich freu mich sehr, dass wir uns heute kennenlernen und ich bin sehr gespannt auf deine Perspektive zum Thema Diversity. Kannst du mir erzählen, warum du dich damit auseinandersetzt?

Susanne: Ich hatte seit meiner Kindheit persönliche Berührungspunkte mit Diversität, bewusst wurde mir das allerdings erst während meines Studiums der Kulturwissenschaften. Ich habe mich mit feministischen und queeren Theorien beschäftigt und mich während meiner Postdoc-Zeit mit Disability Studies auseinandergesetzt. Beruflich spielt das Thema für mich schon meine ganze Karriere lang eine Rolle. Als mir meine persönlichen Beweggründe bewusst wurden, wollte ich intensiver ins Thema eintauchen. Mir wurde klar, dass in diesem Bereich meine Berufung liegt. Ich habe zuerst wissenschaftlich dazu gearbeitet und bin seit einigen Jahren in der Managementberatung zum Themenkomplex Diversity, Inclusion und Equity tätig.

 

Dass diskriminierende Erfahrungen oder das Gefühl, nicht der Norm zu entsprechen, zur Auseinandersetzung mit Diversity führen, habe ich schon oft erlebt bzw. ist das zum Teil auch meine Antriebsfeder. Magst du mir etwas zu deinen Erfahrungen erzählen?

Gern. Durch meine Arbeit bin ich es gewohnt, mich mit allen Seiten zu zeigen. Mir ist es wichtig, darüber zu sprechen, damit Tabus gebrochen werden und auch andere den Mut finden, sich zu öffnen. Ich bin eine queere Frau und identifiziere mich als „able-bodied passing“. In meiner Kindheit wurde eine Wachstumsstörung diagnostiziert, die dann über mehr als zehn Jahre therapiert wurde. Heute werde ich einfach als kleine, zierliche Frau wahrgenommen, niemand merkt mir eine körperliche Beeinträchtigung an. Ich sehe mich auch selbst nicht als behindert – durch die Erfahrungen in meiner Jugend identifiziere ich mich aber genauso wenig als komplett „nicht-behindert“. Ich bin in meinem Leben immer wieder an Punkte gekommen, wo ich dachte, dass etwas nicht mit mir stimmt und ich nicht wirklich in diese Welt hineinpasse. Die intensive Auseinandersetzung mit Diversity hat mir einen anderen Zugang gezeigt. Wir leben in einer Welt, die sehr starr und stark reglementiert ist – gerade auch die Arbeitswelt funktioniert nach wie vor nach gewissen Schablonen.

 

Danke für dein Vertrauen und das Teilen dieser persönlichen Einblicke. Ich denke gerade an die Übung eines Perspektivenwechsels, den ich im Rahmen eines Workshops gemacht habe. Ich sollte die Perspektive einer Frau mit Lebenspartnerin einnehmen und überlegen, wie sich das auf meinen Arbeitsalltag auswirken würde. Mein Gefühl war, dass ich darüber nicht offen sprechen würde und z. B. Gesprächen über die Wochenendpläne ausweichen würde. Wie geht es dir damit?

Seit ich mich beruflich mit DEI beschäftige, spreche ich offener über meine sexuelle Orientierung, um auch in diesem Bereich Tabus zu brechen. Dabei verwende ich den Terminus „queer“, weil er fluider ist als z. B. die Zuschreibung „lesbisch“. Ich kann mich mit der damit verbundenen Haltung identifizieren, die für eine pluralistische, nicht-heteronormative Gesellschaft steht. Während des Studiums war ich in einer sehr offenen, toleranten „Blase“, in der meine Sexualität überhaupt kein Thema war. Auch insgesamt war es für mich relativ einfach, im privaten Umfeld über meine sexuelle Orientierung zu sprechen. Ich habe das Gefühl, dass wir als Gesellschaft diesbezüglich in den letzten Jahrzehnten viel Fortschritt gemacht haben. Es gibt aber trotzdem noch sehr viel Luft nach oben. In den USA gab es 2020 eine repräsentative Umfrage von einer NGO zum Thema LGBTQ-Equality: Dabei kam heraus, dass ein Drittel aller Arbeitnehmer*innen kein gutes Gefühl dabei hätte, wenn ein*e Kolleg*in der LGBTQ-Community angehören würde.

 

In der Arbeit als Beraterin begleitest du Unternehmen auf ihrer Reise hin zu mehr Diversität. Welche Chancen und Benefits entstehen deiner Meinung nach durch die Auseinandersetzung mit Vielfalt?

Ich bin überzeugt davon, dass Unternehmen und Organisationen sich mit Diversity und Inclusion auseinandersetzen müssen. Diversity bietet einerseits Wettbewerbschancen – vielfältige Teams sind innovativer und erfolgreicher – und ist andererseits ein Schlüssel für die Bewältigung der aktuellen Herausforderungen. Ein Markt, der vernetzt und globalisiert ist, fordert andere Herangehensweisen als noch vor wenigen Jahrzehnten. Die Krisen der vergangenen Jahre haben uns gezeigt, dass unsere althergebrachten Muster und Denkansätze nicht ausreichend sind. Wir brauchen neue Impulse und Prozesse. Darüber hinaus profitiert das Unternehmen von engagierten Mitarbeitenden, wenn sie sich zugehörig und eingebunden fühlen. Menschen wünschen sich eine inklusive Unternehmenskultur und einen Arbeitsplatz, an dem sie sich zeigen können, wie sie sind.

 

Welche Maßnahme empfindest du als sehr wertvoll für die Auseinandersetzung mit unterrepräsentierten Gruppen? Gibt es eine Methode, die deiner Erfahrung nach einen deutlich spürbaren Nutzen bringt?

Die Implementierung von „employee resource groups“ (ERG) ist eine gute Methode. Das sind innerbetriebliche Netzwerke rund um Identitätsmerkmale, z. B. für Frauen, für die LBGTQ-Community, für Menschen mit Beeinträchtigungen, mit Migrationshintergrund, usw. Einerseits sind diese Gruppen ein „safe space“, um sich mit Gleichgesinnten auszutauschen. Auf der anderen Seite können diese Gruppen auch vom Top Management genutzt werden, um Bedürfnisse zu erkennen und interne Barrieren abzubauen. Ich empfehle, diese Gruppen nicht der Selbstbeschäftigung zu überlassen, sondern mit konkreten Fragen auf sie zuzugehen, um dann gemeinsam Maßnahmen und Initiativen zu entwickeln. Das kann sich z. B. auf den Recruitingprozess beziehen, um diverser zu rekrutieren. Dadurch werden diese Gruppen zu wirklichen Ressourcen für das Unternehmen. Wichtig dabei ist, dass die Gruppen nicht nur separat betrachtet, sondern regelmäßig in einen gegenseitigen Austausch gebracht werden. Es ist wichtig, Identität intersektional zu sehen und Überschneidungen zu erkennen.

 

Welche Empfehlungen gibst du in der Beratung vielen Unternehmen mit? Gibt es Tipps, die für einen Großteil der Organisationen wertvoll sind?

Definitiv. Zum einen ist es zentral, dass Unternehmen erkennen, wie sie mit Vielfalt umgehen. Wir sehen, dass viele Prozesse und Arbeitsabläufe sich an abstrakten Normen und idealtypischen Mitarbeitenden orientieren. Nun gibt es aber z. B. Personen mit chronischen Krankheiten, die nicht nach dem klassischen Modell täglich von 9 bis 17 Uhr im Büro arbeiten können. Sind diese Personen weniger leistungsfähig? Oder wird es ihnen durch starre Konventionen schwierig gemacht, ihre Stärken auszuspielen? Wir betonen immer, dass Vielfalt allein noch keine nachhaltige Veränderung bringt. Diversität muss durch Inklusion ergänzt werden. Unternehmen brauchen inklusive Rahmenbedingungen, um Vielfalt gut auffangen zu können und ein Gefühl von Zugehörigkeit zu schaffen. Das Ziel sollte sein, allen Menschen unabhängig von ihren Identitätsmerkmalen die gleichen Chancen einzuräumen. Ein zweiter zentraler Aspekt ist das Commitment des Top Managements, das ist der allergrößte Hebel. Wenn die oberste Führungsebene von Diversity und Inclusion überzeugt ist und Raum für die Auseinandersetzung damit gibt, dann hat das eine enorme Wirkung auf alle weiteren Bestrebungen.

 

Ich habe vor Kurzem gelesen, dass Diversity-Beratungen einen enormen Boom erleben. Kannst du das bestätigen? Wenn ja, warum ist es immer mehr Unternehmen wichtig, sich mit DEI auseinanderzusetzen?

Das kann ich definitiv bestätigen. Ich denke, dass dieser Boom gleich mehrere Ursachen hat. Wenn wir nach Amerika oder Großbritannien schauen, dann sehen wir dort schon seit vielen Jahren eine intensive Beschäftigung mit Diversity und Inclusion. Es wundert mich nicht, wenn diese Entwicklung auch stärker auf Europa übergeht. Die zahlreichen Krisen der vergangenen Jahre, allen voran die Pandemie, haben zudem zu einem anderen Bewusstsein für chronische Krankheiten und psychische Belastungen geführt. Die Engpässe bei Lieferketten und der Fachkräftemangel sind weitere Stichworte. Diversity und Inclusion können Schlüssel sein, um mit diesen Herausforderungen umzugehen. Es geht im Kern darum, belastbarere Prozesse und Systeme zu schaffen und Organisationen fit für die Zukunft zu machen.