Gerhard (30) habe ich im Rahmen eines „Diversity Leaders Exchange“ von SHEconomy kennengelernt und ihn daraufhin sofort zu einem Interview eingeladen. In einer Paneldiskussion zum Thema „Male Allies“ hat er die starke Position vertreten, dass Männer sich für Frauen und für die Gleichstellung einsetzen sollten, weil alle Geschlechter davon profitieren. Es fiel mir wirklich schwer, mich auf einige für mich zentrale Fragen zu beschränken, da Gerhard auch durch seine beruflichen Stationen eine sehr spannende Perspektive mitbringt. Hier der Versuch einer Zusammenfassung.
Gerhard, ich freu mich sehr, noch genauer in deine Perspektive einzutauchen. Welche Berührungspunkte hast du beruflich und privat mit dem Thema Diversity?
Gerhard: In meinem Leben vermischen sich mehrere „Diversity-Hüte“. Es gab keine ausschlaggebende Erfahrung, aber ich bewege mich seit etwa 10 Jahren im Themenfeld rund um Gleichstellung und Diversität. Schon während meines Studiums habe ich einen Schwerpunkt darauf gelegt und mich von wissenschaftlicher Seite genähert. Was mir dabei immer fehlte, war die männliche Perspektive auf das Thema Gleichstellung. Daher habe ich mich auf die Suche nach einer Antwort gemacht und diese in der „HeForShe“-Initiative gefunden. 2016 habe ich den Verein „HeForShe Vienna“ gegründet. Als Gründer und ehrenamtlicher Obmann bin ich noch viel weiter in die Gleichstellungslandschaft eingetaucht. Ich bin als Key Note Speaker und Podiumsteilnehmer aufgetreten, habe mit meinem Team Projekte und Kampagnen umgesetzt und im Rahmen von Workshops an Schulen und durch meine Mitarbeit in diversen Gremien das Thema immer wieder aufgegriffen. Nach meiner Tätigkeit im Dezernat für Gender Mainstreaming der Stadt Wien bin ich beruflich in der Unternehmensberatung gelandet und konnte Unternehmen auf ihrem Weg zu mehr Gleichstellung und Inklusion begleiten. Seit Juli 2021 bin ich als Gender Balance und Diversitätsmanager bei den Wiener Stadtwerken beschäftigt.
Das ist ein wirklich spannender „Lebenslauf“. Du hast erwähnt, dass dir die männliche Perspektive auf das Thema Gleichstellung gefehlt hat. Kannst du mir erzählen, wodurch dir das bewusst wurde und wie sich diese Situation für dich gelöst hat?
Ich komme ursprünglich aus einem ländlichen Raum in Niederösterreich und bin mit zwei älteren Schwestern in einer Arbeiterfamilie mit eher klassischen Rollenverteilungen aufgewachsen. Mein Papa hat in einer Papierfabrik, meine Mama Teilzeit im Lebensmittelhandel gearbeitet. Ich habe bei meinen Schwestern erlebt, wie es ihnen mit der Sozialisierung als Frau in unserer Gesellschaft gegangen ist und welche Erfahrungen sie in Beziehungen, beim Studium und im Alltag gemacht haben. Das hat mich dazu bewogen, mich näher mit dem Thema auseinanderzusetzen. Als Harry-Potter-Fan habe ich mitverfolgt, wie die Schauspielerin Emma Watson als „HeForShe“-Botschafterin im Jahr 2014 mit einer Kampagne auf die Initiative aufmerksam gemacht hat. Das war für mich wie ein augenöffnender „Missing Link“. Ich hatte bis zu diesem Aha-Erlebnis das Gefühl, dass sich Gleichstellung sehr oft nur auf der Ebene von Frauenförderung bewegt. Mir hat gefehlt, welche Rolle ich als Mann bzw. welche Rolle Männer generell spielen können, um eine gleichgestelltere Gesellschaft zu erreichen.
Das ist ein Statement, das ich gern weiter aufgreifen würde. Ich bin überzeugt, dass Männer und Frauen gemeinsam viel konstruktiver und effizienter an der Gleichstellung arbeiten können, als es Frauengremien allein können. Kannst du beschreiben, was dich motiviert? Warum setzt du dich für Gleichstellung ein?
Mein Anspruch ist, dass alle Menschen dieselben Chancen bekommen und diese auch nutzen können. Das ist ein sehr idealistisches Ziel, aber ich will mich dafür engagieren. Gleichstellung ist mehr als bloße Frauenförderung. Für echte Gleichstellung sind meiner Meinung nach Veränderungen an unserem System und unseren Strukturen notwendig. Auf der einen Seite ist es wichtig, Frauen zu fördern – und das darf nicht wie bisher nur innerhalb der bestehenden patriarchalen Systeme passieren, sondern muss neu gedacht werden. Auf der anderen Seite bin ich davon überzeugt, dass unsere patriarchale Weltordnung auch nur für einen Bruchteil der Männer positiv ist. Sehr viele Männer ziehen eher Nachteile daraus. Die „patriarchale Dividende“, sprich die vermeintlichen Vorteile, die Männer kassieren, wenn sie sich komplizenhaft verhalten und bei der systematischen Unterdrückung und Abwertung von Frauen „mitspielen“, ist überwiegend den männlichen Archetypen vorbehalten. Für die meisten Männer bedeutet das Streben nach diesem Idealbild von Männlichkeit einen enormen Druck. Sich selbst beweisen und die eigene Männlichkeit permanent betonen zu müssen, ist – wie zahlreiche Studien und Statistiken beweisen – nicht gesund.
Wie erlebst du das aufeinander zugehen von beiden Geschlechtern? Wird es Männern leicht gemacht, sich für Frauen und für Gleichstellung zu engagieren?
Ich war anfangs überrascht, wie viel Resonanz ich zu meiner Positionierung bekommen habe und wie einfach es insgesamt war, als Mann zu diesen Themen Fuß zu fassen. Es gibt ja z. B. im Feminismus auch Strömungen, die meinen, dass Männer in Frauenbewegungen nichts verloren haben. Für mich haben Männer aber definitiv eine Verantwortung im Feminismus. Ich interpretiere Feminismus als eine Art Freiheitsbewegung, die es allen Geschlechtern ermöglicht, patriarchale Denkmuster und tradierte Rollenbilder zu überwinden. Darum empfinde ich es als unsere Pflicht, uns stärker in diesen Diskurs einzubringen. Bloße Lippenbekenntnisse reichen nicht als Engagement, wir müssen unsere Verhaltensstarre ablegen und Verantwortung übernehmen. Denn wir können alle vom Feminismus profitieren.
Du hast das System angesprochen. Welche Hebel haben deiner Meinung nach das größte Potenzial für Veränderungen?
Zentrale Hebel sind meiner Meinung nach Kindererziehung, Bildung und Sozialisierung. Die Öffnungszeiten von Kinderbetreuungseinrichtungen wirken sich z. B. darauf aus, welche Möglichkeiten für Berufstätigkeit gegeben sind und in welche Rollen Eltern gedrängt werden. Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf ist eine Aufgabe, die Politik, Gesellschaft und Unternehmen gleichermaßen lösen müssen. Ein weiterer wichtiger Hebel ist Bewusstseinsbildung: Welche Rollen wir Jugendlichen zuschreiben, welche Perspektiven wir ihnen aufzeigen und welche Chancen wir ihnen einräumen bzw. welche wir ihnen aufgrund von zugeschriebenen Eigenschaften verwehren – das alles sind Fragen, die wir uns in der Erziehung stellen müssen. Es ist wichtig, Jugendliche in dieser herausfordernden Zeit der Identitätsfindung empathisch zu begleiten und ihnen die Sicherheit zu geben, dass sie sein können, wer sie sind. Die Arbeit mit Eltern und Erzieher*innen spielt hier ebenso eine bedeutende Rolle.
Ich würde gern noch auf deine beruflichen Erfahrungen eingehen und dich zuerst fragen, welche Verantwortung du bei Unternehmen siehst. Wie können Unternehmen einen Beitrag zu Diversity und Gleichstellung leisten?
Auf der einen Seite sind Unternehmen gefordert, ihre Produkte und Dienstleistungen inklusiver zu denken und reflektierter sowie verantwortungsvoller mit stereotypen Zuschreibungen umzugehen, anstatt Rollenklischees mit plumpem Gendermarketing zu bedienen. Auf der anderen Seite können Unternehmen meiner Meinung nach über die Kulturen, die sie pflegen, einen wertvollen Beitrag leisten. Wir verbringen viele Stunden bei der Ausübung unseres Jobs und nehmen da natürlich Werte, Umgangsformen und Verhaltensweisen an, die im Unternehmen vorherrschen. Eine weitere Ebene sind die Strukturen in den Unternehmen: Wird auf eine ausgewogene Repräsentation der Diversitätsdimensionen geachtet? Werden inklusive Rahmenbedingungen geschaffen? Gibt es Role Models, die auch nach außen wirken?
Role Model ist ein gutes Stichwort. Du hast dich beim „Diversity Leaders Exchange“ als männlicher Verbündeter positioniert und angemerkt, dass diese Positionierung durchaus mit Schmerzen verbunden ist. Warum bist du dennoch gern ein „Male Ally“?
Bessere Beziehungen, eine stärkere Gesundheit, mehr Freiheiten in der eigenen Berufswahl, usw. – das sind einige der Argumente, auf die ich in Gesprächen mit Männern immer wieder zurückgreife. Die Freiheit, sich auszudrücken und sein Leben zu leben, ist meiner Meinung nach etwas, wo Männer sehr stark dazugewinnen können. Auch im unternehmerischen Kontext ist erwiesen, dass Gleichstellung und Diversität zu mehr Erfolg führen. Male Allyship bedeutet allerdings mehr, als nur einzelne Frauen oder andere unterrepräsentierte Gruppen zu fördern: Für mich bedeutet Male Allyship, die Rahmenbedingungen und damit das System zu verändern. Das ist ein Lernprozess. Weil ich mich selbst und meine gewohnten Muster täglich hinterfrage, sind natürlich auch „Schmerzen“ damit verbunden. Die wenigsten Menschen geben gerne Gewohntes auf – das erzeugt Unsicherheiten. Diese Unsicherheiten nehme ich aber gerne in Kauf: Ich bin überzeugt, dass Gleichstellung für alle Geschlechter Vorteile bringt.
Mehr über die HeForShe-Initiative findet ihr hier:
Das Konzept „Hegemoniale Männlichkeit“ von Raewyn Connell könnt ihr u. a. hier nachlesen:
Bedeutet Gleichstellung, dass es keine Unterschiede mehr geben darf?
„Gleichstellung bedeutet nicht Gleichmacherei. Es geht nicht darum, dass alle gleich behandelt werden und es keine Unterschiede mehr geben darf. Unterschiede machen uns als Gesellschaft wertvoll und vielfältig. Die wirklich wichtige Frage ist, welchen Wert und welche Wertigkeiten wir den Unterschieden beimessen“, sagte Gerhard. Und ich stimme dem voll zu. Ich mag männliche Eigenschaften genauso wie weibliche, ich schätze beide als gleich wichtig ein. Wo erlebt ihr, dass weibliche Eigenschaften geringer geschätzt werden als männliche?